FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Buchcover: Alison Bechdel macht unglaubliche Dehnübungen

FM4/KiWi

Graphic Novel

Der Bechdel-Fitnesstest

Mit Muskelkater die Erleuchtung finden. Die ausgezeichnete Comiczeichnerin Alison Bechdel erzählt anhand ihrer Begeisterung für körperliche Bewegung ihre Biographie. Von hohen Gipfeln und tiefen Abstürzen. Vom Flow zur Transzendenz. Vom Aufblühen und Sterben.

Von Zita Bereuter

Der Bechdel-Test - benannt nach Alison Bechdel - wird häufig verwendet, um sexistische Strukturen in Filmen aufzuzeigen. Wenn in einem Film zwei Frauen vorkommen, die miteinander sprechen, und zwar über etwas anderes als Männer, dann ist der Test bestanden. Den Test hat die Comiczeichnerin Alison Bechdel 1985 erfunden. Damals hat sie in einem feministischen Zeitungskollektiv gearbeitet, erstmals Comics gezeichnet und in ihrer Freizeit exzessiv Karate trainiert. Allmählich spürt sie ein „klärendes Gefühl von Sinnhaftigkeit ... die Überzeugung, dass meine Cartoons und mein Karatetraining Teil eines großen Projekts seien. In meinem Wortschatz gab es plötzlich das Wort ‚Gemeinschaft‘.“

Nachzulesen in „Das Geheimnis meiner Superkraft“. Etwas offener ist der Originaltitel „The Secret to Superhuman Strength“. Darin erzählt Alison Bechdel ihre lebenslange Begeisterung für Bewegung. „Nun schreibe ich nicht nur über Fitness, sondern auch über Fitness als mein Medium für etwas ganz anderes. Das Gefühl, wenn Geist und Körper eins werden.“

Alison Bechdel outet sich als Sportfreak und kann ohne körperliche Bewegung bis hin zur Erschöpfung nicht leben. Sie erzählt in Dekaden - also immer zehn Jahre ihres Lebens. Beginnend in ihren Nullerjahren, als das Mädchen Turnschuhe und Muskeln will. Ein „Bilderbuchschwächling“, der mit Sport in der Schule wenig anfangen kann. Ein Mädchen, das hingegen zuhause einen alten Tennisball so lange werfen kann, bis es in Trance verfällt. „Die Erfahrung der Einheit mit dem Ball weckte in mir den Verdacht, dass nicht nur rohe Kraft mein winziges mickriges Ich vergrößern konnte.“

Comic

FM4/KiWi

Von Südtirol zum Matterhorn Peak

Schon früh ist Alison Bechdel von Bergen angefixt. Die Sehnsucht hat sie möglicherweise von ihrem Großvater geerbt, der in den Südtiroler Dolomiten Ziegen hütete. „The Sound of Music“ im Kino und ein Besuch in der Schweiz tun ihr übriges. Sie lernt Skifahren und bemerkt: „Erschöpfung ist eine Möglichkeit, das Denken auszuschalten. Und ich wusste: Nicht zu denken war leistungsseigernd.“

Jahre später bezwingt sie den Matterhorn Peak in Kalifornien, inspiriert durch Jack Kerouac, der 1958 das Buch „Die Dharmajäger“ schrieb, eines von Bechdels Lieblingsbüchern.

Dazwischen erzählt sie von diversen Sportarten und Fitnesstrends, die sie alle begeistert mitmacht. Angefangen mit Laufen. „Laufen war eine Methode, mich vom Sozialstress der Schule zu erholen und mich gleichzeitig selbst zu vergessen.“ Von Langlaufen zu Bouldern über Karate zu Yoga, von Radfahren zum Rennradfahren und Mountainbiken über Inlineskaten zu Fitnesscenter und Spinning: Das Buch ist insofern auch die Geschichte der amerikanischen Fitnesskultur. Und dem dazugehörigen Gewand. Jahrelang trägt sie nur eine bestimmte Fleecejacke.

„Ich bin jedem Fitnesstrend der letzten sechs Jahrzehnte hinterhergedackelt. Warum? Warum habe ich all diese Lebenszeit mit Sport zugebracht? Vermutlich genau so viel wie empfohlen. (…) Ohne diese körperlichen Mühen wäre ich nur eine leere Hülle. Meine Gründe für Sport reichen vom Körperlichen über das Mentale, Emotionale und Psychologische bis zum eher Spirituellen."

Comic

FM4/KiWi

Mit Muskelkater die Erleuchtung finden

Analog zur Suche nach dem Flow in körperlicher Betätigung sucht Alison Bechdel innere Transformation. Also zitiert sie verschiedenste Gedanken und Werke aus Philosophie und Literatur: Ralph Waldo Emerson, Adrianne Rich, Jack Kerouac, Dorothy und William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge. Die muss man nicht alle kennen, letztlich geht es auch darum, dass die sich zum reinen Vergnügen körperlich betätigten, also Sport betrieben. „Aber mich interessiert auch, wie sie sich untereinander beeinflusst haben. Wie ihre individuellen Ideen Teil eines umfassenden Begreifens von Mensch und Universum wurden.“

Während Alison Bechdel bei Sport und Fitness ausdauernd ist, geht ihr in Beziehungen schneller mal der Atem aus. Ablenkung findet sie nicht zuletzt wieder in Bewegung. Sie kämpft mit Panikattacken, versucht Stresssituationen mit Alkohol zu entspannen und bemerkt irgendwann, dass die körperlichen Superkräfte endend sind. Bemerkt, wie der Tod der Eltern die eigene Sterblichkeit aufzeigt.

Das sind die ruhigen, nachdenklichen Momente in dieser gelungenen Autobiographie, die ansonsten nicht mit Ironie und gesellschaftspolitischen Seitenhieben geizt. Eine Autobiographie, die an die ausgezeichneten Graphic Memoires „Fun Home“ und „Wer ist hier die Mutter?“ anschließt.

Comic

FM4/KiWi

Sehr schön das „Wimmelbild“ des Michigan Womyn’s Festival, wo sie erstmals das Gefühl hat, kein Objekt zu sein, sondern ein Subjekt.

Buchcover: Alison Bechdel macht unglaubliche Dehnübungen

Kiepenheuer & Witsch

„Das Geheimnis meiner Superkraft“ von Alison Bechdel, übersetzt von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler, ist bei Kiepenheuer und Witsch erschienen. Zur Leseprobe

Einmal mehr zeichnet Alison Bechdel detailverliebt und mit besonderer Hingabe für die richtigen Bewegungen.

Gelungen sind besonders die Farben in dem „Fitnessbuch“, wie Alison Bechdel das Projekt nennt. Koloriert hat es ihre Partnerin Holly Rae Taylor, eine Frau, die wohl auf mehrere Arten Farbe in Bechdels Leben gebracht hat.

Während der Pandemie haben die beiden an dem Buch gearbeitet. Gezeichnet sind sie als Mönche dargestellt, die vertieft am Zeichentisch arbeiten. „Jetzt lebten wir nicht nur asketisch und konzentriert, sondern wie im Kloster. Erfüllt von dem kreativen Projekt, gerieten wir in Flow. Nicht mal der Kollaps der Zivilisation störte meine Konzentration.“

Das ist wohl das Geheimnis der Superkraft: sinnerfüllt und kreativ oder durch Bewegung in den Flow kommen. „Das Geheimnis meiner Superkraft“ gibt schon mal eine mögliche Richtung vor.

mehr Comic:

Aktuell: