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Lina Meruane "Nervensystem"

Mariana Garay

Wenn das Bauch-Hirn spricht

Wer kennt dieses Gefühl nicht: Man wünscht sich, krank zu werden, vor einer Prüfung etwa, um die Herausforderung nicht nehmen zu müssen? Aus dem Verweigerungsgefühl einer Einzelperson entwickelt sich der Roman „Nervensystem“ von Lina Meruane zur Krankheitsgeschichte einer ganzen Familie.

von Anna Katharina Laggner

Die Schriftstellerin Lina Meruane ist in Santiago de Chile geboren und lebt in New York City. Ihre Eltern sind Ärzte, sie ist Diabetikerin. In ihrem ersten, auf Deutsch erschienenen Roman „Rot vor Augen“ (Arche Verlag, 2018) hat sie die Erfahrung, in Folge von Diabetes den klaren Blick zu verlieren, verarbeitet. In „Heimkehr ins Unbekannte – Unterwegs nach Palästina“ (Berenberg Verlag, 2020) wiederum reiste sie in das Land ihrer Großeltern, ins heutige Israel, stellte sich die Frage, wer sie ist, was sie wurde und wie sie ausschaut.

In ihrem aktuell auf Deutsch erschienen Roman „Nervensystem“ (Aki Verlag, 2023) verbindet sich all das zu einer über den Orten und konkreten Menschen schwebenden Betrachtung, wie politische und gesellschaftliche Bedingungen zu Schicksalen werden und sich in körperlichen Zuständen zeigen.

Lina Meruane "Nervensystem"

Amy Friend / Marco Jann / Aki Verlag

Lina Meruane: Nervensystem. Aus dem Spanischen von Susanne Lange. 288 Seiten, erschienen im Aki Verlag.

In „Nervensystem“ hat niemand einen Namen, das Figurenensemble besteht aus die Mutter (beziehungsweise die tote Mutter), der Vater, der Erstgeborene, die Zwillinge, der Bruder, die Freundin, die Neurologin, der Knochenexperte und sie. Da niemand einen Namen hat, stehen Objekte als gleichberechtigte Akteure im Raum der Geschichte, etwa „der Heizkörper, der Dampf ansammelt und leise zischt, das ferne Pfeifen der Züge, die den nächtlichen Horizont der Gegenwart durchschneiden.“

Im Zentrum von „Nervensystem“ steht sie, eine Physikerin, die seit Jahren an ihrer Dissertation schreibt, oder eher: nicht schreibt. Nachdem ihr Körper dem Wunsch gehorcht, krank zu werden, tritt anstelle der Doktorarbeit die Beschäftigung mit den Krankheiten ihrer Familie und dem eigenen Körper und dessen Beschwerden: Taubheitsgefühl, eine Entzündung im Rückenmark, verschwommene Sicht.

Genauso wenig wie es hier Namen gibt, gibt es konkrete Ortsbezeichnungen. Stattdessen gibt es das Land der Vergangenheit und die Stadt der Gegenwart. In der Stadt der Gegenwart lebt sie mit ihrem Partner, dem Knochenexperten, der als Gerichtsmediziner die Leichen Unbekannter identifiziert, oft sind es Migrant*innen. Und der gerade eine Explosion knapp überlebt hat.

An der Oberfläche werden hier seitenlang Krankheiten und Untersuchungen beschrieben, auf eine Anästhesienadel, die in eine spitze Nase eingeführt wird, folgen Zahnschmerzen, Migräne, Hypochondrie, Melancholie, das Bauch-Hirn, ein Schlaganfall, Panikattacken. Nicht erst die auf diese Kaskade folgende rhetorische Frage: „Anstatt ständig an Unheil zu denken, warum konzentrierst du dich nicht auf deine Doktorarbeit?“ zeigt, dass es unter der Oberfläche um etwas Anderes geht. Lina Meruane ist eine zum bis-auf-die-Knochen-Sezieren verdammte Meisterin, die Welt und ihre Gegebenheiten in Körperlichkeit zu übersetzen. Und das manchmal sogar mit Witz.

Lina Meruane schreibt metaphernreich, immer darauf aus, mehrere Bedeutungsebenen aufzumachen und durchsetzt ihre kurzen Absätze mit kursiv geschriebenen Assoziationsketten wie Föten Babys Pechvögel oder Muskeln Sehnen Handschuhe Leid. Fast alle Figuren haben eine Migrationsgeschichte, die allerdings nicht erzählt wird, wie überhaupt eine Chronologie der Ereignisse nicht im Fokus dieses Buches steht. Es bewegt sich teils in der Zeit zurück, teils in den Seinszustand von Möglichkeiten, also des Konjunktivs.

Die Figuren scheinen auf dem Weg der Migration die Orientierung verloren zu haben und konzentrieren sich umso mehr und bestimmter auf die (Mis-)Funktionen ihrer Körper. Es ist empfehlenswert, „Nervensystem“ in Häppchen zu lesen, sie schmecken zwar bitter, aber mit einer Idee von Salzkaramell. Bei allzu hoher Dosierung wird einem übel davon.

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