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Hand hält Handy mit Tiktok #markfisher

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theorytok: Wie TikTok zur Plattform für Kapitalismuskritik wurde

Quiet Quitting, anti-work, Black Lives Matter, Klimaproteste. Die Gen Z ist bekannt für viele Protestaktionen. Die theoretischen Diskussionen dazu finden nicht in verstaubten Seminarräumen statt, sondern auf TikTok.

Von Ali Cem Deniz

Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Dieser Satz von Mark Fisher fasst im Grunde seine Arbeit zusammen und wird bis heute auch häufig vom Starphilosophen Slavoj Žižek zitiert. Ähnlich wie Žižek hantierte Fisher nicht (nur) mit unzugänglicher Theorie, sondern analysierte die Widersprüche im Kapitalismus gerne anhand von Film- und Popanalysen.

Anfang 2000er war er mit seinem Blog k-punk einer der wichtigsten Kultur- und Popkritiker im damaligen Internet. Jetzt entdeckt auf TikTok eine neue Generation den britischen Kulturkritiker. Wer dort nach #markfisher sucht, stößt auf unzählige Videos von Influencern aus aller Welt, die sich mit der Arbeit des Theoretikers auseinandersetzen. TikTok und kapitalismuskritische Philosophie scheint auf den ersten Blick etwas widersprüchlich, aber nur auf den ersten Blick.

Billionaire Mindset und Quiet Quitting

Die Plattform hat bekanntlich nicht das beste Image, vor allem, wenn es um tiefgründige Inhalte geht. Doch dort, wo Influencer mit viralen Videos um Aufmerksamkeit und Geld kämpfen, gibt es auch ganz viele, vor allem junge Menschen, die unter #theorytok, in kurzen Clips gegen den Kapitalismus kämpfen. Und so überraschend ist das nicht, wenn man bedenkt, dass kapitalismuskritische Bewegungen wie „quiet quitting“ in den letzten Jahren dank TikTok populär geworden sind. Wo es Praxis gibt, gibt es auch Theorie, und Mark Fisher ist vielleicht der beliebteste Theoretiker auf TikTok.

Kapitalistischer Realismus

Das einflussreichste Buch von Mark Fisher heißt „Capitalist Realism“ und ist 2009 erschienen. Dieses Buch beginnt mit einer Analyse des Dystopie-Films „Children of Men“ und da fällt ebenfalls der berühmte Satz vom Ende der Welt und dem Ende des Kapitalismus. Die etwas pessimistische (oder für überzeugte Kapitalist*innen optimistische) Diagnose von Fisher lautet, dass es unmöglich geworden ist, eine Alternative zum Kapitalismus zu imaginieren.

In dem Umgang mit der Finanzkrise 2008, in der marode Banken mit staatlichen Geldern gerettet wurden, weil ihr Zusammenbruch als „unvorstellbar“ galt, sieht Fisher eine Bestätigung für seine These. Diese Alternativlosigkeit ist für Fisher so dominant geworden, dass sogar Anti-Kapitalismus zu einer Stütze des Kapitalismus wird. Medien und Popkultur vermarkten romantische anti-kapitalistische Ideen in einem sicheren, abgegrenzten Rahmen, der keine Gefahr zum aktuellen System darstellt.

Das vielleicht banalste Beispiel dafür ist eine Pepsi Werbung, in der Kendall Jenner einen Fotoshoot unterbricht, um sich spontan einer Straßendemonstration anzuschließen. Wofür diese Demo steht ist etwas unklar, wir sehen nur junge Menschen die musizieren und tanzen, auf ihren Transparenten sind Peace Zeichen zu sehen. In einem entscheidenden Moment, als der Demozug auf etwas schlecht gelaunte, aber eigentlich völlig passive Polizist*innen stößt, übergibt Kendall Jenner einem Polizisten eine Dose Pepsi. Anschließend beginnen alle gemeinsam zu feiern.

Gefangen im 20. Jahrhundert

Diese Alternativlosigkeit ist für Mark Fisher nicht nur eine politische oder wirtschaftliche Angelegenheit. Sie führt auch zu einem kulturellen Stillstand. „We are trapped in the 20th century. What is it to be in the 21st century? It is to have 20th century culture on high definition screens.”

So kritisierte Mark Fisher die Stagnation und die schwindende Vorstellungskraft, die er in der Popkultur sah. Fast 15 Jahre nach „Capitalist Realism“ lässt sich auch diese Behauptung nicht ganz widerlegen. Im Kino werden wir von Marvel-Sequels bombardiert, in der Spielewelt folgt ein Remake dem anderen und in der Musik dominiert die Nostalgie. Bei den Gen-Z Doomern, die 90s Ästhetik kopieren und in eine düstere Zukunft blicken, kommt auch diese Kritik von Mark Fisher gut an.

Der erste Mental Health Influencer

Und dann ist da das vielleicht größte TikTok Thema überhaupt: mental health. Mark Fisher schrieb nicht nur über Politik, Philosophie und Pop, sondern auch über mentale Gesundheit. In der Hinsicht ist der Kulturkritiker eine Art Pionier. Noch lange bevor die Diskussion über mental health salonfähig wurde, schrieb Fisher, der 2017 Suizid begangen hat, offen über seine Depressionen. Wobei er sich gegen die Formulierung „seine Depressionen“ wehren würden. Depressionen und mental health waren für Fisher keine individuelle Angelegenheit.

Screenshot von TikTok

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TikTok diskutiert über Fisher

Er kritisierte die Psychologie, die Ursachen für mentale Probleme häufig im „Inneren“ sucht und plädierte dafür, sie draußen zu suchen – in der kapitalistischen Gesellschaft. Für die vielen mental health-Influencer ist das auf TikTok offenbar eine spannende Perspektive. Mental health als Nebenerscheinung des Kapitalismus.

TikTok gegen Kapitalismus

Mark Fisher ist nicht der einzige populäre Theoretiker auf TikTok. Byung-Chul Han und seine Müdigkeitsgesellschaft scheint bei den überarbeiteten Zoomern und Millenials auch einen Nerv zu treffen, oder Judith Butlers Kritik an Gendernormen und Jean Baudrillards Thesen zur Hyperrealität, die vielleicht zu keiner Plattform so gut passen wie zu TikTok.

Ausgerechnet auf der überkapitalistischen und unpolitischen Plattform TikTok entstehen so neue Räume für (Anti-)Kapitalismus und Gesellschaftskritik. Neben Mindset Videos, die (sehr vage) erklären, wie man mit 21 die erste Million verdient, werden jeden Tag Videos zu Mark Fisher und anderen Denker*innen hochgeladen. Vielleicht ist es irgendwann doch möglich, sich das Ende des Kapitalismus vorzustellen.

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