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Tina Turner

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robert rotifer

Zum Tod von Tina Turner

In der Karriere der am Mittwoch verstorbenen Tina Turner reflektieren sich die großen Emanzipationserzählungen der Popgeschichte - die Befreiung von der Kleinstadt, von rassistischer Ausgrenzung, männlicher Gewalt und Altersdiskriminierung. Ein Versuch, zu erfassen, wie das alles in bloß ein Leben passte.

Von Robert Rotifer

Eine andere Welt vor einem halben Jahrhundert. Ike & Tina Turner im Studio der deutschen Fernsehsendung „Musikladen“. Sie spielen „Nutbush City Limits“, Tina Turners autobiographischen Song über ihre Kindheit. Ike, im braunen Rollkragenpulli, hämmert humorlos mit finsterem Blick seine akustische Gitarre, die man gegen den Halb-Playback-Backing-Track ankämpfen hört, Tina, im knallroten Hosenanzug mit dicker, roter Holzperlenkette und Silberamulett, deklamiert im Kontrast dazu mit einem breiten Grinsen im Gesicht ihre Geschichte: „An Wochentagen gehst du aufs Feld, am Labor Day gibt’s ein Picknick, am Samstag fährst du in die Stadt, jeden Sonntag in die Kirche. Sie nennen es Nutbush, oh Nutbush, sie nennen es Nutbush City Limits.“

Nachdem ich in dieser besserwisserischen Zeit lebe, muss ich hier einwerfen, dass es, wie ich nachgelesen habe, in der ländlichen Gemeinde Nutbush theoretisch gar keine City Limits gibt, das hätte man Tina Turner wohl erklären müssen, was weiß sie schon von Nutbush... ach was, sie kam dort her, hat tatsächlich als Kind auf den Baumwollfeldern gearbeitet? Mag sein, aber wir haben Wikipedia.

So oder so: Obwohl man es ihrem Gesang nicht anhört, beschreibt sie Nutbush eigentlich als einen furchtbar freudlosen Ort. „Kein Whiskey zu verkaufen, wenn sie dich schnappen, gibt’s keine Kaution, gesulztes Schweinefleisch und Melasse ist alles, was du im Gefängnis kriegst (…) Alte Kleinstadt in Tennessee, man nennt das eine ruhige, kleine, alte Community.“ Aber die Idylle hat einen düsteren Kern, denn „You have to watch what you’re puttin’ down in old Nutbush.“

Anne Mae Bullock hieß die spätere Tina Turner, als sie 1939 dort geboren wurde, sie hatte eine chaotische Kindheit, ihre Mutter lief weg, als sie noch klein war, ihr Vater heiratete bald eine andere, und sie wurde auswaggoniert, wuchs bei ihrer Großmutter auf, die starb, also zog sie als Teenagerin zu ihrer Mutter nach St Louis. 1957 sieht sie dort Ike Turner mit seinen Kings of Rhythm in einem Club spielen, geht in der Pause ans Mikro, singt einen Blues, wird von Fleck weg als neue Show-Einlage engagiert.

1958 erscheint der Song „Boxtop“, ihr erster Auftritt auf Platte als „Little Ann“ (sie ist 19, nach damaligen Maßstäben also keineswegs mehr „little“ und außerdem bereits alleinstehende Mutter) neben Ike Turner und Carlson Oliver. Erstaunlich im Nachhinein, wie typisch erkennbar bereits ihre Stimme klingt.

Zwei Jahre darauf schrieb Ike Turner einen Song namens „A Fool in Love“, der dafür als Sänger vorgesehene Art Lassiter erscheint nicht zur Studio-Session, Anne Mae übernimmt provisorisch die Lead-Stimme, und das Label Sue Records kauft Ike Turner die Aufnahme ab.

Ike beschließt, dass Anne ab jetzt „Tina Turner“ heißen soll. Der Vorname, weil er besser klingt, der Nachname, weil er ihm gehört, und zur Sicherheit lässt er den Künstlerinnennamen auch gleich rechtlich schützen, damit er, falls diese Sängerin ihm wegläuft, notfalls auch eine andere Tina Turner nennen kann.

Aber dazu kommt es nicht, obwohl Ike Tina von Anfang an mit seinem Schuhstrecker und anderen Gegenständen verprügelt. Zu groß ist ihre Loyalität gegenüber dem Mann, dem sie – das klassische Muster – ihre Karriere verdankt.

Tatsache ist, dass Ike & Tina Turner in dieser Phase ein paar wunderbare R&B-Platten machen („R&B“ steht damals für Rhythm & Blues, eine Form von „race music“, die erst später über den Umweg ihrer Beliebtheit bei weißen, britischen Bands, die sie kopierten, ihren Weg in die amerikanischen Pop-Charts finden sollte).

Die Ike & Tina Turner Revue betourt Anfang bis Mitte der Sechziger im immer noch großteils rassensegregierten Amerika den sogenannten Chitlin’ Circuit, also für Schwarzes Publikum zugelassene Club- und Konzertlokale, mit dabei nun auch ein Chor von Backing-Vokalistinnen – von Ike Turner charakteristisch selbstlos „The Ikettes“ genannt.

1965 sieht Phil Spector, der Platzhirsch des Girl-Group-Sounds der Frühsechziger, die Band am Sunset Strip spielen, ist begeistert, holt Tina ins Studio und lässt sie gegen den Wall of Sound seiner 21 Session-Musiker*innen anrennen. Die dabei entstandene Single „River Deep Mountain High“ (1966) kann Tina Turner berühmterweise nicht leiden, nicht zuletzt, weil Spector sie bei der Aufnahme endlos viele Takes singen lässt.
Ike spielt laut Spector bei den Sessions gar nicht mit, sein Name steht aber neben Tinas auf dem Label der Single.

Der Song ist zunächst kein großer Charts-Erfolg, aber er führt Ike & Tina Turner in die weiße Pop-Welt ein. Sie gehen 1966 und 1969 mit den Stones auf Tour (dazwischen überlebt die von ihrem Mann gepeinigte Tina einen Selbstmordversuch durch eine Überdosis Valium).

An der Wende zu den Siebzigern sieht es eine Zeitlang so aus, als würden der Schwarze Soul und der Weiße Rock unaufhaltsam zusammenwachsen, siehe Sly Stone, siehe Hendrix, siehe aber auch Ike & Tina Turners Cover von Credence Clearwater Revivals „Proud Mary“ (1971).

Der Protagonist des Songs verlässt „einen guten Job in der Stadt“, um mit dem Raddampfer Richtung Süden zu gelangen, wo er die von CCR verherrlichte Ursprünglichkeit des Deep South zu finden hofft. Genau das Gegenteil davon, was Schwarze Amerikaner*innen wollten, deren Reise aus dem rassistischen Süden in die (vergleichbare) Freiheit des Nordens zu führen pflegte.

Zu dieser Zeit beginnt sich schon etwas grundlegend zu verändern im Autoritätsgefüge zwischen Ike & Tina Turner, denn 1972 erscheint mit „Feel Good“ ein Album, auf dem Tina alle Songs bis auf ein Beatles-Cover selbst geschrieben hat, was übrigens – ungeachtet seiner Gewalttätigkeit – nicht Ike Turners Fähigkeiten als Produzent schmälern soll, der Rock und Funk zu verbinden weiß. Im Jahr darauf erscheint dann auch „Nutbush City Limits“, von Tina geschrieben, Arrangement, Produktion und Moog-Solo von Ike.

1975 spielt und singt Tina die Rolle der „Acid Queen“ in Ken Russells Verfilmung von The Who’s „Tommy“ - aus heutiger Sicht schwer PROBLEMATISCH, erst einmal, weil die Gipsy („Zigeunerin“) die Verführung durch die Droge LSD personifiziert, die den reinen Tommy korrumpiert und ihn auf die Reise in die Abgründe seiner Psyche schickt.
Und zweitens, weil mit Tina Turner nicht zufällig die einzige Schwarze Frau in diesem Film zur Verkörperung dieser Figur gewählt wurde. Aber, und das ist der Punkt, wo die heutige Wahrnehmung im Widerspruch zur damaligen steht, Tina Turner macht die Acid Queen durch ihre Performance zu einer heroischen Rolle, dämonisch, sexualisiert, aber deshalb umso cooler – kurz gesagt, genau die Mischung aus Rassismus und Glorifizierung, die die weiße Rezeption von „Black Music“ bis heute so komplex macht.

1976 entflieht Turner endlich dem übergriffigen Ike, die Scheidung zieht sich zwei Jahre dahin, ihre frühe Solokarriere verläuft wechselhaft, sie versucht sich in Disco, geht ein bisschen nach Italien, aber es sollte ihr Kontakt mit der britischen Post-Punk-Szene sein, der schließlich alles verändert.

British Electric Foundation alias Martyn Ware und Ian Craig Marsh (später Heaven 17), die ein paar Jahre zuvor in Sheffield im englischen Norden die erste Inkarnation von The Human League gegründet hatten, holen sich Tina Turner als Teil ihres der elektronischen Neu-Interpretation alter Pop-Hits gewidmeten Projekts „Music of Quality and Distinction“ ins Studio und nehmen mit ihr eine futuristische Version des alten Temptations-Hits „Ball of Confusion“ auf.

Es ist diese Aufnahme, die John Carter von Capitol Records auf die Idee bringt, die schon als Frau von gestern abgeschriebene Künstlerin in ihren mittleren Vierzigern (damals ein – vor allem, aber nicht nur – für weibliche Popstars geradezu unvorstellbar hohes Alter) unter Vertrag zu nehmen.

Ein ebenfalls von B.E.F. produziertes Cover von Al Greens „Let’s Stay Together“ erreicht als erste Single-Auskopplung des Albums „Private Dancer“ die Spitze der Billboard Dance Charts.

Turners neue Persona als offensiv erotische Frau in reiferen Jahren definiert sich aber entlang des von Mark Knopfler von Dire Straits (ursprünglich für deren Album „Love Over Gold“) geschriebenen Titelsongs, gesungen aus der Perspektive einer gealterten Prostituierten (wobei Tina Turner später behauptete, diesen Aspekt zum Zeitpunkt der Aufnahme nicht verstanden zu haben) bzw. der ebenfalls aus bitterer Erfahrung sprechenden dritten Single-Auskopplung „What’s Love Got To Do With It“.

Damit beginnt die aus den Playlists diverser Hit-Radios sattsam bekannte, lange Erfolgsphase in Tina Turners Solo-Schaffen, synchron zur Entdeckung eines erwachsenen Publikums als bevorzugte Zielgruppe der bis dahin gewohnheitsmäßig nur auf den Jugendmarkt zielenden Musikindustrie.

Es ist erlaubt, Platten wie „We Don’t Need Another Hero“ oder „Simply the Best“ nicht zu mögen, schon überhaupt, wenn man alt genug ist, als junger Mensch ihren flächendeckenden Einsatz mit der gesamten Macht der damaligen Major-Label-Tyrannei mitbekommen zu haben. Nachgeborenen wiederum ist es ebenso erlaubt, sie ironisch, post-ironisch oder unironisch zu umarmen.

Nicht vergessen darf man jedenfalls, was für einen Eindruck 1986 das Erscheinen der mit Hilfe von Kurt Loder verfassten Memoiren I, Tina machte, in deren Seiten Tina Turner offen von der knochenbrechenden Gewalt erzählte, die ihr Ike Turner angetan hatte. Dinge, die das Musikgeschäft bisher lieber verschwiegen hatte, wurden nicht nur zum Thema, sondern auch zum Teil der Story Tina Turners als Survivor. Als Unbeugsame. Im Nachhinein betrachtet war das wohl eine Art feministischer Meilenstein der Popgeschichte.

Das Buch inspirierte 1993 das Biopic What's Love Got To Do With It mit Angela Bassett in der Hauptrolle. Tina Turner war von ihrer Darstellung darin als Ikes naives Opfer allerdings gar nicht begeistert.

Als sie 2009 zu ihrem 50. Bühnenjubiläum in den Ruhestand ging, war sie schon 70 und hatte Schlaganfälle hinter sich. 2013 heiratete sie ihren langjährigen Partner Erwin Bach und nahm die Schweizer Staatsbürgerschaft an, in ihren letzten Jahren hatte sie mit Krebs zu kämpfen und musste sich einer Nierentransplantation unterziehen, gestern ist sie in Küsnacht bei Zürich gestorben. Ihren Entdecker und Peiniger Ike hat sie damit um 16 Jahre überlebt.

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