„27 Storeys“: Eine Doku über das Aufwachsen in Österreichs größtem Sozialbau
„27 Storeys“ beginnt mit Aufnahmen, die normalerweise weggeschnitten werden: Die Regisseurin steht etwas verloren im Bild, auf der Suche nach Protagonist*innen. Gibt Regie-Anweisungen aus dem Off, „Herr Betriebsleiter, ich flehe Sie an, wollen Sie ein Mal durchs Bild gehen?“. Was selbiger dann nicht tut. Auch der Bub, dem Bianca Gleissinger genau zeigt, wie er durchs Bild rollern soll, nimmt einen anderen Weg. Wir versuchen in unseren Leben viel zu kontrollieren, aber viel haben wir nicht in der Hand.
Das hat Bianca Gleissinger schon als Kind erfahren, als ihre Eltern aus der 5-Zimmer-Maisonette-Wohnung auszogen, obwohl sich Klein-Bianca an der Dunstabzugshaube festgehalten hat. Hier war sie glücklich, hier hatte sie, obwohl ihre Eltern nicht reich waren, alles. Nun kehrt sie zurück und findet in erster Linie sehr viele Pensionist*innen, die hier seit Jahrzehnten leben und glücklich sind.

Mischief Films
Bianca Gleissinger geht in die Wohnung ihrer Kindheit zurück, was eine etwas bittere Erfahrung ist. Sie besucht einige der rund 30 Clubs, die es heute in Alterlaa gibt, den Flugzeugmodellbauclub in einem Keller, die Bridge-Runde, sie versucht sich beim Schießen im Schießverein und ihr wird die Nachfolge für das von einem Ehepaar betriebene Freddy Quinn-Museum angeboten. Es ist vermutlich das größte Freddy Quinn Museum der Welt.

Mischief Films
Der Wohnpark Alterlaa ist ein Projekt der Superlativen, „das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl“ lautete der Plan des 2016 verstorbenen Architekten Harry Glück. Unter anderem hat jede Wohnung eine eigene, private Freifläche, was in einer dicht bebauten Großstadt wie Wien Luxus ist. Und dennoch, die soziale Utopie von Alterlaa beruht auf dem klassischen Familienmodell Mann-Arbeit/Frau-Mutter und ist damit natürlich überhaupt nicht (mehr) utopistisch. Auch dass Flugzeugmodellbauclubs oder Bridge-Runden nicht mehr den heutigen Jugendinteressen entsprechen, erfährt man wenig überraschend von Jugendlichen am Rande des Swimmingpools am Dach von einem der Wohntürme.

Mischief Films
Fragen von Rollenverteilung und Geschlechtergerechtigkeit schweben über dem ganzen Film und Bianca Gleissinger stellt auch ganz konkret die Frage, wer in einer Beziehung zugunsten der anderen Person so genannte „Abstriche“ macht. Die Antworten, beziehungsweise Nicht-Antworten, die sie bekommt, zeigen, dass Ehen, die in der Zeit des Wirtschaftswachstums geschlossen wurden, zwar eine Schieflage zu Ungunsten der Frauen aufweisen, aber dass damit nicht alle Frauen unzufrieden waren, und sind. Diese Krot zu schlucken, fällt Bianca Gleissinger sichtlich schwer. Diese Krot zu schlucken, ist nicht leicht.

Mischief Films
Genau das macht „27 Storeys“ so sympathisch und vielschichtig. Nicht umsonst spielt der Titel damit, dass er in gesprochener Sprache sowohl 27 Stockwerke als auch 27 Geschichten bedeuten kann. Indem sich Gleissinger selbst zur Protagonistin, zur Beteiligten macht, erhebt sie sich nicht über ihre Protagonist*innen. Dadurch entsteht ein Bild, das Ambivalenzen zulässt und in dem Widersprüchliches teils friedlich ko-existiert. Es zeigt sich nicht zuletzt, dass eine fraglos geniale, aber großteils von Männern in die Realität umgesetzte Utopie, knirschen muss.

Mischief Films
Publiziert am 30.05.2023