Der Song zum Sonntag: Blur mit „St. Charles Square“
Von Lisa Schneider
Bitte erklär mir, wie man eine Erfinderin bleibt, wie man immer mehr wird, und nicht weniger. Stoßgebete an Damon Albarn und seine große Band Blur, er wird sie nie hören, er putzt gerade seine dicken, schwarzen Ray-Ban-Brillengläser und channelt seine innere, jüngere Version, weil bald geht’s wieder an den Platz zurück where all the magic seit immer happens. Nächstes Wochenende spielen Blur zwei Wembley-Stadionshows in London, und wer nicht dabei ist, ist nicht dabei.
Erklär es mir also, wie ist das mit den (Selbst-)Referenzen? Blur haben am Donnerstag die zweite Single ihres kommenden neunten Albums „The Ballad Of Darren“ veröffentlicht, es erscheint am 21. Juli. Seit sechs Wochen ist schon „The Narcissist“ das beste Lied der Welt, unter anderem, weil der schönste Vorhangschließer seit der Erfindung des Wörtchens „godspeed“. Jedes Lied muss schon auch für sich selbst stehen, denkt euch die hier sonst obsolete Kolumne, aber releaseverständnismäßig macht das alles Sinn. Sie hatten Spaß.
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„St. Charles Square“ klingt wie eine kleine Zeitreise zurück an den Anfang oder auch in die Mitte der 90er, als genau diese Band Blur eine eigenartige, nonchalante, disharmonische und wunderbare Art von Musik geschrieben hat. „Beetlebum“ blitzt im Gedächtnis, wisst ihr noch, damals, als Gelangweiltsein das schönste mittelständische Hobby war und man sich dazu blödsinnige Geschichten ausgedacht hat. „St. Charles Square is a place where the ghosts of monsters can be found“ ist ein sicher überinterpretierbares Statement von Damon Albarn, das seinen Weg in den Beipackzettel zur Single geschafft hat.
„‚Cause there’s something down here / and it’s living under the floorboards“: Wer schreibt denn heute noch Geistergeschichten zur Gitarre, das Schmunzeln tröpfelt da eh irgendwie durch, spätestens beim eher scheuen Geschrei von Damon Albarn im ersten Refrain. Wir nehmen euch in, aber schon auch ein bisschen auf den Arm, jedenfalls aber passen auch nach diesem Lied unter jedes Bett nur die eigenen Ängste. Die größte bleibt die schlimmste und die realste, es ist immer die vorm Alleingelassenwerden: „Don’t leave me completely“.
Die herrlich leidenschaftslose Anfangszeile dieses Lieds wird aktuell schon durch halb Europa gebrüllt, Blur haben als Warm-Up in den letzten Wochen einige Festivalauftritte gespielt und „St. Charles Square“ war im Liverepertoire schon jedes Mal vertreten. Die herrliche Leidenschaftslosigkeit geht so: „I fucked up / I’m not the first to do it“.
Fetzen und Furor und ein Ich-kann-nicht-weiter, das sind die Lieder, die dich Listen erstellen lassen, Bandkatalog-Bestenlisten, es ist immer the horror, aber bei Blur ganz bestimmt. Das sind Lieder, angesichts derer man deren Vorgänger schon wieder beim Wertvollsein erwischt.
Also, Erklärung, wie ist das mit der Selbstreferenz? Viele wüssten’s gern, tun’s aber nicht, und wenn, würden sie es nicht sagen. Sie würden ein neues, neuntes Album schreiben, das nach dem Jo, eh-Release 2015 („The Magic Whip“) ziemlich sicher die beste Rück-Rückkehr des Jahres und Bestätigung für eine wichtige Sache wird: Sie alle glauben, wir stolpern, weil die Welt sich dreht, aber eigentlich liegt’s an der Musik.
Publiziert am 02.07.2023