Der Song zum Sonntag: Shamir - Our Song
Von Michaela Pichler
Die besten Verbindungen im Leben kommen nicht ohne Musik aus. Sei es eine Freundschaft oder eine romantische Liebesbeziehung – zur gemeinsamen Geschichte, die man mit einer Person teilt, braucht es auch einen ganz bestimmten Song, der nur für den eigenen Mikrokosmos geschrieben wurde. Was für eine Strahlkraft so ein Track auch noch im Nachhinein haben kann, darüber hat der US-amerikanische Musiker Shamir auf seiner neuen und neunten Platte „Homo Anxietatem“ einen Song geschrieben.
„Our Song“ erzählt eine Geschichte übers Loslassen: Stell dir vor, du machst gerade eine Trennung durch, es ist heiß in der stickigen Wohnung und du öffnest dein Fenster. Wegen der Umstände bist du sowieso schon dünnhäutiger unterwegs und dann hörst du vom Plattenladen, über dem du praktischerweise wohnst, auch noch diesen einen Song. Da reichen auch nur ein paar Zeilen vom Text, eine Hook, die all die Bilder wieder aufflackern lässt. Immer noch ein treffsicherer Trigger.
I remember when you would visit me / And we shoot the shit all night / Cause I lived above the record store / And they played our song all the time
Einmal also noch die gemeinsame Zeit abspulen, zumindest rein gedanklich, zumindest einen Song lang. Bei Shamir dauert das ganze Reminiszieren vier Minuten und sein unverkennbarer Countertenor klingt nach zerfranstem Indie-Rock. Gibt es in der ersten Strophe noch lauwarme Versuche, die Sache vielleicht doch wieder hinzubiegen, sich zu entschuldigen, sickert in den Lyrics schnell die Realität durch. Denn wenn es hart auf hart kommt, gibt es bei einer Trennung eben nicht nur gebrochene Herzen, sondern auch angeknackste Egos - oder wie Shamir es ausdrückt: “Just please come clean, no broken veins / Just a bit of a bruised ego”
„Our Song“ ist einer der elf neuen Tracks auf „Homo Anxietatem“, das am Freitag via Kill Rock Stars veröffentlicht wurde. Wie der lateinische Titel schon sagt, geht es um den verängstigten Menschen - ein facettenreiches Porträt eines fühlenden, sorgenden, denkenden Wesens im Jahre 2023. Was Shamir neben klugem Songwriting noch sehr gut kann, ist es, sich immer wieder wie ein Pop-Chamäleon zu verwandeln: 2015 hat der Musiker aus Las Vegas mit seinem Debütalbum „Ratchet“ von sich Reden lassen, Disco-Dance-Einflüsse inklusive. Danach folgen Lo-Fi- und Noise-Platten, Shamir wird als queeres Allround-Talent gefeiert. Zuletzt mit „Heterosexuality“, auf dem Shamir die binären Gendergrenzen mehr als einmal ins unendlich Fluide dehnt. Sein neuestes Werk ist ein weiterer zeitgeistiger Pop-Gedanke zum Thema Leben als Schwarzer queerer Künstler im 21. Jahrhundert.
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- Auch die geschätzten Wissenschafts- und Popjournalist*innen Thomas Kramar und Heide Rampetzreiter machen sich in der Presse am Sonntag zum jeweils selben Song ihre Gedanken.
Für den Track „Our Song“ hat der 28-jährige Artist am längsten benötigt, noch nie sei ihm das Schreiben eines Songs so schwer gefallen. Loslassen braucht eben auch seine Zeit und erst recht, wenn man diesen Prozess in ein kreatives Output packt. „Oh, it’s so hard to let go, but at least I know / It’s good for something“ - heißt es da in der Bridge. Auch, wenn man sich am Ende wieder selbst zusammenflicken muss, war es wohl für irgendetwas gut. Immerhin lernt man sich selbst auch wieder ein Stück mehr kennen, wenn etwas Wichtiges auf einmal wegbricht und man wieder ganz allein dasteht.
Publiziert am 20.08.2023