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Filmstills aus "Rimini" von Ulrich Seidl

Ulrich Seidl Filmproduktion

FILM

Auf der Suche nach Wahrhaftigkeit: Ulrich Seidl über „Rimini“

In seinem neuen Film portraitiert der österreichische Ausnahme-Regisseur einen abgetakelten Schlagersänger. Im FM4 Interview erzählt Seidl über seine Arbeitsweise und seinen Blick auf Sex, Tragik und das Menschsein.

Von Christian Fuchs

Schlager: bei diesem Wort stellen sich gleich Assoziationen ein. Eine extrem erfolgreiche deutsche Sängerin kommt einem in den Sinn, die artistisch zu fetten Dancebeats über Bühnen turnt. Man denkt an austauschbare Herzschmerz-Texte und an das Wort „Kitsch“ in fetten Neonbuchstaben. Schlager, so heißt es in hippen Kreisen, kann man höchstens ironisch hören.

All diese Gedanken spielen für Ulrich Seidl glücklicherweise keine Rolle. Er nimmt Schlager ernst, sieht ihn als Tragödienform der Popkultur. Und er liebt nicht die zynischen Schönlinge der Branche, sondern die abgestürzten Mini-Stars und ihre schmerzhaften Backstage-Storys. „Rimini“, Seidls neuer Film, erzählt so eine Geschichte von einem gefallenen Schlagerengel, der in die Vorhölle kommt.

Schlager, Sex und Seelenleid

Richie Bravo (Michael Thomas) war in den Achtzigern für einen Moment ziemlich weit oben, mit Hits für das damalige Regionalradio. Jetzt tingelt er im Winter durch italienische Urlaubsorte, wo einsame Pensionist*innen ihn noch immer als Schlagergott feiern. Während Richie in trostlosen Hotellobbys zum Playback singt, stirbt sein Vater (Hans-Michael Rehberg in seiner letzten Rolle) einen langsamen Demenztod in einem österreichischen Altersheim.

Ulrich Seidl ist eine Trademark im österreichischen Kino. Mit seinen provokanten Dokus und kontroversen Spielfilmen wie „Hundstage“, „Import Export“ oder der „Paradies“-Trilogie spaltet er die Meinungen. International gilt Seidl als großer Künstler und tabubrechender Kino-Innovator. In seinem neuen Film „Rimini“, der auf der Diagonale seine Premiere erlebt, folgt er einem alternden Schlagersänger auf eine tragische Reise. „Rimini“ läuft ab 8.4.2022 in österreichischen Kinos.

Die Sehnsucht nach Liebe und Sex, die verbaute Existenz der Figuren, das exzessiv Körperliche als Ausdruck einer inneren Leere: „Rimini“ ist ein typischer Ulrich-Seidl-Film geworden - und dann wieder doch nicht. Das Schicksal des abgetakelten Machos Richie Bravo ist bei aller Härte höchst berührend inszeniert. In typisch symmetrischen Bildern taumelt der großartige Michael Thomas durch das verschneite Rimini, umgeben von einem genialen Ensemble.

Zum Heulen schön ist dabei übrigens der Soundtrack von Fritz Ostermayer und Fuzzman Herwig Zamernik. Auch sie zelebrieren den Schlager als Verbeugung vor der Verzweiflung. „Rimini“ ist genau der Film, den man sich immer von Ulrich Seidl gewünscht hat - und er ist noch besser geworden als erwartet.

Filmstills aus "Rimini" von Ulrich Seidl

Ulrich Seidl Filmproduktion

Rimini im Winter

Christian Fuchs: Ein alternder Schlagersänger spielt einsame Konzerte in italienischen Hotels. Das klingt schon in der Beschreibung sehr nach einem Ulrich-Seidl-Film. Wie ist es dann wirklich zu dieser Idee gekommen?

Ulrich Seidl: Also die Idee für den Richie Bravo gab der Michael Thomas als Schauspieler vor, weil ich hatte ihn vor langen Jahren einmal auch als Sänger kennengelernt. Er hat zwar keine Schlager gesungen, aber er hat sehr beeindruckend gesungen und insofern ist diese Idee entstanden für die Richie-Bravo-Figur. Ursprünglich war das so gedacht, dass er in einem Episodenfilm über Massentourismus spielen sollte, als ein Entertainer, als auch schon ein bisschen abgetakelter, in die Jahre gekommener Sänger. Dieser Film wurde aber nie realisiert und Jahre später wieder – also diese Idee ist uralt – bin ich dann wieder darauf gestoßen, auf diese Geschichte des Richie Bravo.

Ja, dazu noch die italienische Adria im Winter, ein unglaublich trostloser Ort. Wie sind die Dreharbeiten verlaufen?

Ich möchte einmal sagen, für mich ist das kein trostloser Ort. Also würden wir uns die andere Seite anschauen, nämlich Rimini im Sommer, wenn die Strände überfüllt sind, wenn hier hunderttausende Urlauber in ihren Sonnenbetten unter Sonnenschirmen liegen, wo die Hitze unerträglich ist, wo Lärm und Gestank sind, das ist sozusagen das, was wir uns vorstellen als Sehnsuchtsort an der Adria.

Für mich ist es das ganz und gar nicht, ich finde das schrecklich und finde sozusagen die Winteratmosphäre, wenn alles in den Nebel getaucht ist, wenn die Strände leer sind, wenn man dort einsam herumspazieren kann – dann finde ich das viel interessanter und tiefgründiger und für die Geschichte des Richie Bravo auch viel passender, weil er ist ja nicht mehr am Höhepunkt seiner Karriere, sondern er ist quasi abgetakelt und er singt vor seinen Fans, die mit dem Autobus im Winter angereist kommen.

Gleich am Anfang sehen wir eine derartige Trademark-Ulrich-Seidl-Einstellung, dass in der Pressevorführung ein Raunen durch die Menge ging. Wie geht man mit der Erwartungshaltung um, dass man längst zur Marke geworden ist?

Ich kümmere mich nicht darum, sondern ich versuche, aus jedem Projekt, mit jedem Film das Beste zu machen, was ich machen kann. Und natürlich hat man seine eigene Filmsprache, man hat seinen Blick. Also ich weiß sehr genau, wenn ich einen Schauplatz für mich auswähle, warum ich den auswähle. Und ich weiß, glaube ich, auch sehr genau - gemeinsam mit meinem Kameramann -, warum wir das oder jenes Bild eben nicht machen. Das wissen wir jedenfalls mal - auch wenn wir oft auf der Suche sind nach besonderen Bildern, die dem, was wir hier sagen wollen, auch gerecht werden.

Filmstills aus "Rimini" von Ulrich Seidl

Ulrich Seidl Filmproduktion

Böse Spiele unter Brüdern

Sie kombinieren oft verschiedene Themen. Also es steht zwar immer – darauf kommen wir noch zu sprechen – die Sexualität im Mittelpunkt, auch die Verlassenheit einer Figur. Es kommt aber in „Rimini“ jetzt noch die Flüchtlingskrise als Background dazu, die in die Geschichte eindringt. Ist so etwas von Anfang an als Idee da?

Was die Flüchtlinge anbelangt, das war von Anfang an so, das steht auch im Drehbuch drinnen, genauso wie der arabische Freund von der Tessa, also von der Tochter vom Richie Bravo. Und dass die dann auch immer mehr werden, dass am Ende des Films die Tessa in die Villa Bravo, also zu ihrem Vater, mit der ganzen Entourage einzieht, das steht auch so im Drehbuch, das ist Handlung. Und dass in Rimini oft Flüchtlinge herumsitzen oder herumliegen oder vorbeigehen, ist natürlich ein Abbild unserer Wirklichkeit und das war mir sehr wichtig, hier zu zeigen. Es betrifft ja, wie wir alle wissen, nicht nur Rimini, es betrifft uns alle in Europa und das ist unsere Wirklichkeit, damit müssen wir umgehen.

Die meisten Ihrer Spielfilme sind Ensembledramen; die Figur des Richie Bravo steht diesmal sehr im Mittelpunkt. Aber auch die anderen Charaktere sind essenziell – der Bruder, der von Georg Friedrich gespielt wird, der demente Vater, die Frauen um ihn herum. Wären das lauter eigene kleine Seidl-Filme für sich eigentlich? Denn ich habe gehört, es gibt vielleicht einen eigenen Film über die Bruder-Figur.

Genau, so ist es. Es wird einen zweiten Film geben mit dem Titel „Sparta“, wo dann quasi der jüngere Bruder von Richie Bravo die Hauptfigur ist, verkörpert von Georg Friedrich, und dieser Film spielt in Rumänien. Ursprünglich war es ein Projekt mit dem Arbeitstitel „Böse Spiele“, bei dem beide Brüder in einem Film in Parallelhandlungen erzählt werden sollten, natürlich mit dem Vater, der ja auch in „Rimini“ vorkommt und auch in „Sparta“. Erst am Schneidetisch fand ich heraus, dass es emotional viel stärker wirkt, zwei Filme zu machen.

Ulrich Seidl

Peter Rigaud / Ulrich Seidl Filmproduktion

Strahlender Held am Abgrund

Berührend sind alle Seidl-Filme, auf jeden Fall auch die Dokus. Dieser Film aber auf eigene Weise noch mehr, ich muss sagen, ich habe Tränen verdrückt. Es ist irgendwie fast Ihr zärtlichster Film. Hat sich das so entwickelt bei den Dreharbeiten, ist es Michael Thomas, ist es das Thema?

Ich bin nicht an diesen Film herangegangen mit dem Vorsatz: Jetzt will ich endlich ein bisschen zärtlicher sein als in der Vergangenheit. Sondern das hat sich so ergeben, möglicherweise auch unbewusst, aber der Richie Bravo als Filmfigur ist ja nicht der strahlende Held, muss man sagen. Aber er ist ein Mensch. Mit sehr vielen Abgründen, mit sehr – vielleicht – Eigenschaften, die nicht jeder Zuschauer für gut empfindet.

Aber was so interessant ist an ihm: nämlich dass er ein Charakter ist, der auf der einen Seite sein Leben nicht im Griff hat, aber immer wieder dafür kämpft, dass er es in den Griff bekommt. Und wenn er auf der Bühne steht, ist er der strahlende Held für seine Fans und das, was er singt, ist auch ganz ehrlich, so meint er es auch.

Auch in „Rimini“ gibt es bei aller Zärtlichkeit diese Momente der totalen Selbstentblößung. Laiendarsteller*innen sind eine Sache, aber wie kriegt man professionelle Schauspieler*innen dazu, an diese Punkte zu gehen?

Ich mache keinen Unterschied zwischen professionellen Schauspielern und Laien, weder in der Arbeitsmethode noch in der Vorbereitung für den Film. Und sie dazu zu bekommen, heißt nichts anderes, als sich gut vorzubereiten, und die Schauspieler*innen, die bei mir mitmachen, die wissen ja, was sie erwartet, und die tragen das ja mit.

Die muss man nicht dazu überreden für eine Sexszene, sondern die wissen, dass es für diesen Film notwendig ist, und sie wissen auch, wie das gezeigt wird. Und sie haben eine große Freiheit dabei – das darf man hier nicht vergessen.

Filmstills aus "Rimini" von Ulrich Seidl

Ulrich Seidl Filmproduktion

Für die Echtheit, gegen Zynismus

Hat die Entblößung in ihren Filmen mit einem wahren Blick zu tun? Also nicht dieser verstellte Blick der sozialen Medien etwa, sondern Sexualität in ihrer Echtheit zu zeigen?

Mit Entblößen liegen Sie nicht richtig. Dagegen muss ich mich verwehren. Es ist eine Wahrhaftigkeit.

Vielleicht Wahrhaftigkeit statt wahrer Blick, ja.

Wir haben in unseren Köpfen so ein bestimmtes Schönheitsideal, wir haben Bilder im Kopf, wo die Menschen, die Sex miteinander haben, jung und schön sind und man sieht auch nur ganz gewisse Körperpartien. Und ich zeige es so, wie es eigentlich wirklich ist – für uns alle im normalen Leben. Und das Schockierende daran für manche Zuschauer, oder das Ungewöhnliche, ist, dass man das so nicht in seinem Kopf hat. Aber es ist eben die Wahrhaftigkeit, es ist einfach so, so ist es. So schaut man aus.

Filmstills aus "Rimini" von Ulrich Seidl

Ulrich Seidl Filmproduktion

Und dann ist da in „Rimini“ natürlich noch die Musik. Es ist sogar eine CD mit den Greatest Hits von Richie Bravo erschienen, Fritz Ostermayer und Herwig Zamernik haben die Schlager unglaublich authentisch komponiert...

Es war einer der ganz wichtigsten Kriterien, um diesen Film überhaupt zu machen. Denken Sie nur, wenn das nicht funktioniert hätte, dann wär der Richie Bravo eine lächerliche Figur geworden. Und das ist ja nicht gemeint. Für den Film ist ja ganz wichtig, dass er die Schlager, die er singt, auch genauso meint und auch seine Fans in einem gewissen Sinne auch glücklich macht damit. Er ist kein Zyniker, der jetzt auf die Bühne kommt, um Geld zu verdienen, sondern er will den Menschen etwas näherbringen.

Er will ihre Sehnsüchte befriedigen, er will, was der Schlager alles beinhaltet: die Sehnsucht nach Liebe, der Schmerz des Verlassenseins, die Hoffnung auf eine neue Liebe und so weiter und so weiter. Das war also ganz wichtig, dass das funktioniert und Fritz Ostermayer und Herwig Zamernik haben das bestens gelöst.

Vielen Dank für das Gespräch!

Gerne.

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