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Roskilde Festival

Christian Hedel

Das Roskilde Festival 2023

„This is the first edition of the next 50 years!” heißt es am dänischen Roskilde Festival. Mit Queens Of The Stone Age, Blur und jeder Menge utopischer Wunschgedanken.

Von Susi Ondrušová

Knapp eine halbe Zugstunde von Kopenhagen entfernt liegt Roskilde. Am letzten Samstag im Juni ist das Roskilde Festival gestartet. Die 80.000 Festivalpässe waren Mitte Juni ausverkauft, für die letzten vier Haupttage an denen alle acht Bühnen am Kerngelände bespielt wurden gab es Tagestickets, aber kurz gesagt: es war sehr voll. Ein fröhlicher Menschenauflauf. Außer natürlich, wenn man vor einer Bühne steht, nach rechts will und andere plötzlich nach links wollen. Man musste sich einigen. Go with the flow.

Für das besondere Festivalflair, dieses gemeinschaftliche Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein, sorgen am Roskilde Festival rund 30.000 Volunteers. Sie organisieren, planen, sortieren, koordinieren, kontrollieren und machen sauber. Vom Security-Mitarbeiter im Wavebreaker bis zum Arzt im Sanitätszelt, der Bühnenmanagerin backstage oder der Mitarbeiterin am Gate zum Campingplatz: alles Freiwillige, die je nach Job mindestens vier 8-Stunden-Dienste am Festival arbeiten.

Roskilde Festival

Christian Hedel

Damon Albarn liebt das Roskilde Festival. Das wissen die meisten der Besucher:innen, denn er ist nicht zum ersten Mal hier. Mit seiner Band Blur hat er schon 2003 am Roskilde Festival gespielt, mit jedem seiner weiteren Bandprojekte legt er in Roskilde einen Tourstop ein: ob als Soloperformer, mit dem Africa Express oder den Gorillaz. Der Gorillaz-Auftritt 2018 wurde durch einen Bühnen-Unfall bei der letzten Nummer vorzeitig abgebrochen; beim Soundcheck also, den Blur in voller Besetzung zu früher Stunde höchstpersönlich absolvieren, versammelt sich eine Traube an Festivalbesucher:innen vor der Bühne: manche rufen nach ihren Lieblingssongs, einer schreit: Don‘t fall off the stage!
Damon sagt „This is a serious rehearsal!“ Er ist nervös. Beim abendlichen Konzert erzählt er, dass er hier am Festival schon selber gecampt hat und bedankt sich bei allen Mitarbeiter:innen, die seine Band an diesem Tag willkommen geheißen haben. „It´s the best festival in the world“, sagt er. Die Familie seiner Mutter kommt aus Dänemark; wenn er ins Publikum schaut, dann stellt er sich vor, er könnte mit jemandem hier verwandt sein. Von Musik beflügelte Träume, ein Festival als Sehnsuchtsort. Ein Ort, an dem sich alle verstehen und aufeinander aufpassen? Wo keine Autorität Platz hat, weil man sich auf Augenhöhe begegnet?

Blur am Roskilde Festival

Christian Hedel

So ähnlich sieht es Josh Homme von Queens Of The Stone Age. Bei seinem Headliner-Gig auf der zweitgrößten Bühne des Festivals kommt es zu einer Diskussion mit den Securities. Crowdsurfen oder auf Schultern sitzen ist hier am Gelände verboten. Als ein Fan daran gehindert wird, das Konzert auf den Schultern der Begleitung zu genießen, unterbricht Josh Homme den Gig und sagt zum Security: „You work for us. Dont tell her what to do.“ Anfänglich etwas befremdlich. Vor allem, weil viele der langjährigen Volunteers, die als Securities arbeiten, sich noch sehr gut an den tragischen Unfall 2000 erinnern: acht Festivalbesucher:innen sind während eines Pearl-Jam-Konzerts zu Tode getrampelt worden.

Beide Seiten meinen es gut. Josh Hommes Brandrede, die Leute machen zu lassen, was sie wollen, weil nichts passieren wird, solange wir uns alle einig sind, dass wir auf einander aufpassen, ist herzerwärmend kitschig, aber auch utopisch (um nicht zu sagen naiv).

Roskilde Festival

Christian Hedel

Utopie lautet auch das Motto, das sich das Festival für die nächsten drei Jahre an die Fahnen heften möchte. Neben der Musik geht es am Roskilde Festival auch um Kunst und Aktivismus. Einzelne Programmpunkte sollen das Motto widerspielen. Man möchte den Besucher:innen zeigen, dass eine andere, bessere Welt möglich ist. Das Motto ist eine Reaktion auf die zentralen Gefühle des Gen-Z-Publikums: Zukunftsangst, Hilfslosigkeit, Wut, Mutverlust. In welcher Welt werden wir leben? Oder in was für einer Stadt? Während des Festivals verwandelt sich Roskilde dank der 100.000 Besucher:innen in die fünftgrößte Stadt Dänemarks. Man will positive Beispiele zeigen, wie aus einer Utopie Wirklichkeit werden kann. Ein Sehnsuchtsort, eine Vorbildwirkung? Utopie scheint aber auch wie ein Versprechen aus der Werbung: Glatte Haut. Weiße Zähne.

Die Realität holt einen auch auf dem Festival ein, denn es gibt Parallelwelten zum schön erdachten Utopie-Thema. Die Queens-Fans jubeln dem Frontman bei seinen „We are one!“-Rufen zu, aber im Moshpit wandert doch wieder eine Hand absichtlich zum Busen von jemand anderem. Wie viele von den zehntausenden Besucher:innen, die Lil Nas X abfeiern, werden nach dem Aufwachen tatsächlich zu Allies der LGBT-Community?

Roskilde Festival

Christian Hedel

Der leicht traurige Unterton dieser Zeilen ist natürlich auch den Erschöpfungserscheinungen am vierten Festivaltag geschuldet. Wir hatten hier alle Wetterzonen: 28 Grad untertags und 12 Grad in der Nacht. Es war nass, es war trocken, es war staubig, es war windig, es war sonnig, es war bewölkt. Ganz normaler Open-Air-Wahnsinn. Die gute Nachricht: die Festivalapotheke verkauft Blasenpflaster in zwei Größen. Am Weg dahin mache ich halt in der Lounge für Pfandsammler. 5 Kronen (ca 0,70€) Pfand gibt es auf die Mehrwegbecher, Dosen, Tetrapaks, Shotgläser. Entweder man retourniert den Becher an der Bar oder wirft ihn in einen Abfallcontainer - oder er landet am Boden.

Das Roskilde Festival (24.6.-1.7.2023) ist eines der größten und ältesten Musikfestivals Europas. Es findet seit 1971 in Roskilde nahe Kopenhagen statt.

Es gibt professionelle Pfandsammler:innen, die am Festival mit Schubkarren unterwegs sind oder in riesigen Plastiksäcken alles an Pfandgut vom Boden aufheben. Sie wandern die Zeltplätze ab oder leuchten den Boden an den Rändern der feiernden Menschentraube aus, während Blur „The Universal“ anstimmen. In ihrer Lounge lösen sie das Pfandgut ein und werden ausbezahlt. Ein Team an Freiwilligen übernimmt dann weiter und sortiert das Gut entweder manuell oder mit einer eigens für das Roskilde Festival entworfenen Maschine. Zwei Millionen Pfandbecher sind an diesem Wochenende auf dem Festival im Umlauf. Salomon ist einer der professionellen Pfandsammler. Ursprünglich kommt er aus Kamerun und hat auch Blasen an den Füssen wie ich. Viel Zeit hat er nicht für ein Gespräch, die Arbeit ist anstrengend und er muss weitersammeln, denn er braucht das Geld. Die meisten Menschen, denen er begegnet, sind freundlich und drücken ihm den Pfandbecher selbst in die Hand. Über die anstrengenden Besucher:innen will er nicht zu viele Worte verlieren. Er erzählt aber von den nigerianischen Pfandsammlern, die sich sehr über einen Auftritt einer Band aus ihrem Heimatland gefreut haben.

Roskilde Festival

Christian Hedel

Für Arbeiter wie Salomon ist die Vorstellung, auf der anderen Seite des Publikums zu stehen, eine Utopie. Hier treffen zwei Festivalrealitäten aufeinander: die Crowd, die sich das Festivalticket leisten kann. Und die Crowd, die sich mit dem Pfandgeld Lebensmittel für ein Monat leisten wird.

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