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Leuchtturm Margate

Lisa Schneider / Fm4

Down in Albion

Vergangenes Wochenende haben The Libertines zwei exklusive Shows vor sehr kleinem Publikum in ihrer Immer-noch-ein-bisschen-Wahlheimatstadt Margate im Südosten Englands gespielt. Ein unvollständiger Reisebericht.

Von Lisa Schneider

Wenn man im schön und gleichzeitig sanft shitty Bahnhofsgebäude in Margate steht, sieht man da über etwaigen Ankunftsplänen ein in unerreichbarer Höhe aufgehängtes T-Shirt. Es ist ein Fußballtrikot hinter Glas, es ist dunkelblau und vorne drauf steht „The Libertines“. Stellt euch vor, in eurem Heimatort, an einem beliebigen äußeren Landzipfel, hängt ein Merch-Artikel der Lieblingsband im öffentlichen Raum. Das ist ja zum Haareraufen wunderbar, es entspricht der tief verwurzelten UK-Musiktradition sehr, und es erzählt eine kleine, große Rock’n’Roll-Geschichte von Anfang an.

The Libertines-Fußballtrikot am Bahnhof Margate

Lisa Schneider / FM4

Für die Saison 2018/19 haben The Libertines das Sponsoring des hiesigen Fußballclubs übernommen, zu einer Zeit, als die Band gerade auch ein altes Gebäude vor Ort gekauft und sich häuslich niedergelassen hat. Vor einigen Wochen haben The Libertines ein neues Album angekündigt, es trägt den wunderbaren Titel „All quiet on the Eastern Esplanade“ und wird im März 2024 erscheinen. Die erste Single „Run Run Run“ ist das beste Lied seit naja, wahrscheinlich dem zweiten Album dieser Band. Und wenn man’s gefühlig sieht, weil wieso nicht, darf man das auf den Ursprungsort der Musik zurückführen, und da landen wir schon wieder in Margate.

Margate ist eine im südöstlichen England gelegene Küstenstadt, ein Städtchen eigentlich (ca. 60.000 Einwohner:innen), früher mal ein beliebter Urlaubsort, weil Meer, Sand, Möwen, Leuchtturm und so weiter. Wie’s dann so vielen ähnlichen englischen Städten gegangen ist, ging’s bergab, Menschen sind mit dem Aufkommen von Pauschaltourismus dann eben lieber nach Italien oder Spanien oder sonstwohin geflogen, es war genauso leistbar wie der Zug von London hinaus aufs Land und schon auch ein bisschen exotischer.

Seit den 1960er- und 70ern also ging’s runter, und seit den 2010ern geht’s wieder Richtung rauf. Wie es oft so ist, übernahmen und übernehmen Künstler:innen und Kreative die Stadt, die aktuell mehr und mehr independent shops, neue Bars und sogar Museen bekommt. Menschen, die man dort trifft, Menschen in ihren 30ern, empfehlen: jetzt eine Wohnung kaufen, es ist noch leistbar. In ein paar Jahren schreiben wir dann über diesen Artikel das nicht so sehr, aber manchmal schon auch schöne Wort „gentrification“.

Aussicht Margate

Lisa Schneider / FM4

„The loveliest skies in all Europe“ hat der große, britische Landschaftsmaler William Turner mal gesagt, er ist in Margate zur Schule gegangen und immer wieder zurückgekehrt. You see why.

In eben diesem Margate, auf der Straße Eastern Esplanade, von der aus man direkt hinaus aufs Meer schaut, stand ein altes B’n’B frei. Die Legende besagt, dass es das am schlechtesten bewertete Unterbringungsörtchen in ganz Kent war, und es war genau das richtige für die Band The Libertines.

Albion Rooms Margate

Lisa Schneider / FM4

2017 kaufen sie es und lassen sich Zeit mit dem Umbau, zwischenzeitlich lebt Pete Doherty selbst da, bevor es dann vor drei Jahren unter dem Namen „The Albion Rooms“ neu eröffnet wird. Es wird mit dem schrecklichen Titel „Boutiquehotel“ ausgeschrieben, es ist aber natürlich viel mehr als das. Eine handvoll Zimmer, unter anderem eine „Emily Dickinson-Suite“ gibt’s da, eine Rooftop-Bar mit schönen Dingen wie einem veganen Burger namens „Can’t stand me cow“ oder aber einem eigenen Studio. Wer sich dort einmietet, kann obendrauf diese Räumlichkeiten inklusive ausgewählter Instrumente der Band The Libertines mieten. Und Musik schreiben, so, wie eben jetzt Pete, Carl & Co: Ihr kommendes Album ist in den Albion Rooms entstanden.

In der Lobby steht ein Kamin, da hängt eine Weihnachtssocke mit der Aufschrift „Peter“, auch sonst liegt allerlei schöner Krimskrams aus den vergangenen Jahrzehnten (Jahrhunderten?) herum, alles dunkel, alles Whiskey. Weil das waren The Libertines schon auch immer: Kitschsammler, Zusammenbringer von dem, was abgewrackt und hässlich und schon auch wieder ein bisschen schick war im alten England, das sie so sehr lieben, mit all seinen Geschichten und vergessenen Worten und der großen Poesie, und hier landen wir ja wieder bei „Albion“.

The Libertines haben am vergangenen Wochenende zwei exklusive Liveshows im Lido Margate gespielt, einem liebevoll herabgewirtschafteten Lokal, das man, laut Plakat an der Außenwand, auch gern für „birthdays, weddings oder anniversarys“ buchen kann. Es gehen ungefähr 250 Leute rein. Die Tickets für die Show und die für die danach angekündigten Aftershowparties waren in wenigen Sekunden weg. Das ist, unromantisch gesehen, ein sehr schönes Promo-Tool, und das ist, lieber romantisch gesehen, die Geschichte einer Gruppe, die einer sich gerade wieder erholenden Kleinstadt Aufmerksamkeit und vor allem viel Zuneigung widmet. Auf die Frage hin, was also „Albion“ ist, bekommt man in der nie langen Einlassschlange auch deshalb keine aus dem Wörterbuch abgelesenen Antworten, sondern die, die auf die Band zugeschnitten sind. „Albion is a ship that takes everyone to where their dreams are, it takes them to Rock’n’Roll land.“ Man kann’s ja gar nicht glauben.

Eingang Lido Margate

Lisa Schneider / FM4

Die zwei Shows, am Samstag und am Sonntag im Lido, sind früh angesetzt. Um 18.00 spielen The Libertines jeweils ein knackiges Set, verraten schon ein bisschen mehr zum neuen Album, vor allem aber auch, wie die Banddynamik im Jahr 2023, also nach guten 25 Jahren Bandbestehen, aussieht. Pete Doherty ist da und zufrieden, dick eingemummelt in einen Wintermantel, während Carl Barât, der sich und den Rest der Gruppe durch die Show trägt, sich langsam aus den ledrigen Kleidungsstücken schält. Immer dann, wenn ihm was auf den Wecker geht, dreht er sich kurz nach hinten um und trinkt einen Schluck - durchsichtig, aber höchstwahrscheinlich kein Wasser - und weiter geht’s.

Sie singen gemeinsam ins Mikro, wie wir’s von vielen Bildern im Internet und auf unseren Smartphones kennen, sie spielen die Nostalgieshooter „Can’t Stand Me Now“ und „Don’t Look Back Into The Sun“ und sie eröffnen das Set jeweils mit oben erwähnter, bester, neuer Single „Run Run Run“. „You better run run run run / faster than the past / through the looking glass / if you want the night to last“: das kauft man auch nur diesen Menschen in diesem Setting und nach diesen Jahren ab, weil was soll man als Rockgruppe sonst machen. Statements und bisschen drauf Pfeifen.

The Libertines Lido Margate

Lisa Schneider / FM4

Menschen erzählen nach den Konzerten von unbeschreiblichen Energien, die zwischen Pete Doherty und Carl Barât hin- und hersausen, das ist natürlich aufgewärmte, euphorisierte Fan-Sprache, und sie ist auch ein bisschen wahr. Wir kauen sie nicht nochmal durch, die Menschen in Margate kauen sie nicht durch, die Stories zu Tratsch und Klatsch und Gefängnis, zu Drogen und zu Bandrausschmissen. Wieso soll man sich gegenseitig nicht auch ab und zu hassen dürfen? Und wieso dann halt auch immer das Drumherum über die Lieder stellen, lieber schon drüber reden, ob dann doch Team Pete oder Team Carl. Die Frage ist, wie so oft vorher, nicht restlos geklärt, weil die, die’s wissen, wissen: es ist unmöglich.

Das beste Lied „Music When The Lights Go Out“ wird kurzerhand aus der Setlist gestrichen, weil Pete irgendwie keinen Bock hat. Carl nimmt sein Glas, oder besser, sein Gläschen, weiter geht’s. Ein kluger Mensch hat einmal gesagt, dass das ja vielleicht eine der besten Sachen an The Libertines ist, das Unberechenbarbleiben. In Zeiten von - eben! - Setlist-Checks vor, während und nach dem Konzert, von geregelten U-Bahn-Zeiten und strikt geplanten Ausgehabenden ist das genauso ärgerlich wie erfrischend, es kommt immer drauf an, wieviel Glück man trotzdem hat, und in Margate ist die Chance drauf offenbar ein bisschen höher. Da kann es sein, dass man gar nicht draufsteht, auf der Gästeliste für die Aftershowparty im eh schon auch ein bisschen legendären Club „Justine’s“, und dann steht man trotzdem plötzlich drin und mehr, eigentlich direkt neben der Bühne. Statt eines angekündigten DJ-Sets spielen The Libertines vor gut 70 Menschen triefend und schreiend und glücklich dann eben nochmal ein paar Lieder. Schon wieder: Man kann’s ja manchmal gar nicht glauben.

Margate also, eine Stadt, in der nicht wahnsinnig viel los ist, die den Montag ad Schnarchgrad zum neuen Sonntag auserkoren hat, in der aber an jeder Ecke ein Tourplakat das Konzert von etwa IDLES im Vergnügungspark Dreamland ankündigt. Eine Stadt, in der an der Drogeriemarktkasse eine Katze am Tresen sitzt, eine Stadt, in der The Libertines jetzt schon adoptierte Heilige sind, und manchmal auch wieder gar nicht. „They’re playing this weekend? Wow, I used to love them so much“ sagt eine Buchhändlerin, ihr Geschäft liegt da, wo die meisten schon sanft hipsteresk angehauchten Dinge passieren, in der Nähe des alten Rathauses in gepflasterten Gässchen. Aber ja, dann Handwegwischbewegung, Carl sieht man hier eh jeden Tag, „he seems to be a nice guy“. Beim Namen Pete zögern die meisten dann doch eher kurz, irgendwas von „Drogen“ wird gemurmelt und dann der Blick traurig. Es ist die alte Geschichte.

Old Kent Market Margate

Lisa Schneider / FM4

Wer hören will, muss fühlen - der FM4 Musikpodcast

radio FM4

The Libertines haben ein Hotel aufgemacht und wir waren dort. Im FM4 Musikpodcast geht es um Margate und seine Einwohner:innen, um The Libertines im Jahr 2023 und wie eine Stadt eine Band adoptieren kann. Im FM4 Player und überall, wo es Podcasts gibt.

Margate also, eine Stadt, bei der sonntags alle, inklusive Bedienungspersonal, sanft verkatert ihren Dingen nachgehen („sunday vibes!“), dann doch aber nach dem Breakfast-Burrito dem Reparieren mit orangen- oder tomatenhaltigen Getränken nachgehen. Eine Stadt, in der Männergruppen im 40-Jahres-Durchschnitt in eine Bar einfallen und von verzweifelten Kellner:innen schnell zuerst bedient werden müssen, weil Gruppe, und die bringt mehr. Eine Stadt, in der sich Menschen Barcodes ins Genick tätowieren lassen, eine Stadt, in der sich Menschen am Rückweg von der Bartoilette für ihre Größe entschuldigen, „‚cause I’ve taken up all the space in there“. Eine Stadt, in der man den Stylisten der The Libertines-Videos oder die von Florence Welch trifft, oder eine Schneiderin, die Outfits für Filme wie „Wonka“ oder Serien wie „The Crown“ geschneidert hat. Eine Stadt, in der man Montagabend Jazzkonzerte von Menschen miterlebt, die sonst ihre klassischen Kompositionen an royale Begräbnisse weitergeben. Sie alle haben ihre eigenen Wikipedia-Einträge. Fast.

Margate also am Ende vielleicht nicht vor allem, aber doch auch und gerade nach diesem Wochenende, eine Kunst- und Inspirationsstadt und die Stadt der Band The Libertines. Mit ein bisschen Glück mietet man sich da also ein, im Hotel „The Albion Rooms“, oder man bekommt kein Zimmer und klopft trotzdem an. Und mit noch ein bisschen mehr Glück, wir wissen jetzt, solche Dinge passieren in Margate, öffnet Pete Doherty persönlich die Tür und weiß gar nicht, was ihn mehr erstaunt, der späte Besuch oder sein riesiger Hund, der nach draußen drängt. „Sorry, but we’re in the middle of recording something“ sagt er, und sagen will man ihm dann nur noch: Ja bitte, immer, immer weitermachen.

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