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„Der Richter ist kein Psychologe“

Wie gehen Richter*innen mit mutmaßlich Betroffenen von sexueller Gewalt um? Wie laufen solche Prozesse ab und worauf achten Richter*innen? Wir haben mit einer Strafrichterin gesprochen.

Von Gersin Livia Paya

Doris Halper-Praunias ist seit 1999 Strafrichterin beim Landesgericht Eisenstadt, war zuerst Untersuchungsrichterin mit Zuständigkeit für Sexualdelikte in Ermittlungsverfahren. Sie kennt die Bearbeitung von Sexualdelikten also von beiden Seiten - das Ermittlungsverfahren und das Hauptverfahren. Und sie ist auch Vorsitzende der Schöffen - die Laienrichter*innen, die bei Sexualdeliktprozessen mitentscheiden. FM4-Redakteurin Gersin Livia Paya hat mit Doris Halper-Praunias über Sexualdeliktprozesse bei Gericht gesprochen.

Paya: Es gibt also ein Ermittlungs- und ein Hauptverfahren. Was genau ist das Ermittlungsverfahren?

Doris Halper-Praunias: Das Ermittlungsverfahren beginnt mit der Anzeigeerstattung bei der Polizei und dann mit der Einleitung des Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft. Und der erste Kontakt des Opfers bei Sexualdelikten ist meistens bei der Polizei, dort erfolgt auch die erste Einvernahme. Es gibt da schon die Möglichkeit, von einer Person des gleichen Geschlechts einvernommen zu werden, die Möglichkeit, eine Vertrauensperson herbei zu ziehen und die Möglichkeit von psychosozialer Prozessbegleitung. Das kann das Opfer auch im Ermittlungsverfahren schon bei den ersten Schritten in Anspruch nehmen. Wenn es genug Substanz gibt, wird die Ermittlung weitergehen und wird in aller Regel von der Staatsanwaltschaft eine Einvernahme des Opfers bei Gericht beantragt. Und diese gerichtliche Einvernahme von Opfern sexueller Gewalt ist eine spezielle Einvernahme, dafür gibt es Sonderregelungen.

Welche Sonderregeln gelten bei solchen Prozessen?

Es gibt die Möglichkeit der sogenannten kontradiktorischen Vernehmung eines Opfers sexueller Gewalt. Minderjährige Opfer sind zwingend kontradiktorisch zu vernehmen. Das bedeutet, dass das Opfer abgesondert vom potenziellen Täter einvernommen wird. Also man befindet sich nicht mit ihm in einem Raum und wird ihn auch idealerweise nicht am Gang treffen, es wird separiert. Der mutmaßliche Täter sitzt gemeinsam mit seinem Verteidiger, dem Staatsanwalt und den Beteiligten-Vertreter in einem Raum und in einem anderen Raum sitzt das Opfer mit der vernehmenden Person, also dem Richter oder einem Sachverständigen. Und diese Vernehmung, dieses Gespräch wird einerseits aufgezeichnet und andererseits in den anderen Raum hinüber übertragen. Zusätzlich hat das Opfer auch die Möglichkeit, nach Ende dieser Vernehmung zu sagen „Ich möchte in der Hauptverhandlung, falls es zu einer solchen kommt, gar nicht erscheinen, sondern ich möchte, dass das heute aufgezeichnete Video dort vorgespielt wird“. Das heißt, das Opfer muss sich in der Hauptverhandlung gar nicht dem Täter stellen und auch nicht den anderen Verfahrensbeteiligten, wenn es das möchte.

Und Ihrer Erfahrung nach: Ist es eine häufige Praxis, dass Opfer nicht mit Täter konfrontiert werden möchten?

Also ich würde sagen, zu 99 Prozent, ja. Es sind ganz wenige, die im Verhandlungssaal dem Täter in die Augen schauen und nochmal aussagen wollen.

Sie haben die „Prozessbegleitung“ erwähnt. Gibt es bei einer Prozessbegleitung auch eine Art Coaching für den Prozess? Vor allem wenn man der Vertretung der gegnerischen Seite begegnet?

Ja. Es gibt zwei Arten der Prozessbegleitung: Die juristische Prozessbegleitung und die psychosoziale Prozessbegleitung. Beide können vom Opfer in Anspruch genommen werden und erfolgen gratis. Das sind in Burgenland meistens Vertreter*innen von der Gemeinschaft Burgenland. Die sind speziell geschult, hauptsächlich Psychologinnen, die auch im Vorfeld das Opfer auf die Situation und die Vernehmung vorbereiten.

Es es eine Herausforderung für die Polizei und für die Justiz. Im Regelfall steht Aussage gegen Aussage. Meist gibt es aber wenige Zeugen und Beweismittel. Wie gehen Richter*innen mit solchen Herausforderungen um? Bei so einer Ausgangslage?

Es ist leider sehr oft so, dass es keine Zeugen gibt. Bei Vergewaltigung und sexueller Gewalt ist meistens niemand dabei. Auf diese Frage kann ich keine hinreichende Antwort geben. Da kommt es erstens natürlich auch auf den persönlichen Eindruck an, auf die Glaubhaftigkeit sowohl des Angeklagten als auch des Opfers. Und man versucht natürlich so viel als möglich, wenn es keine unmittelbaren Beweise gibt, die sogenannten Kontroll-Beweise abzufragen. Wer hat rundherum vielleicht etwas beobachtet? Wie glaubwürdig ist das Opfer? Wie ist der Täter generell? Man versucht irgendwie, abgesehen von den Aussagen der beteiligten Personen, trotzdem rundherum noch so viel als möglich an Beweisen aufnehmen zu können, um sich abschließend ein Urteil bilden zu können. Denn im Zweifel gilt immer: für den Angeklagten. Wenn man nicht überzeugt ist von der Schuld eines Täters, kann man nicht verurteilen. Man muss 100% überzeugt sein.

Gehen wir noch mal einen Schritt zurück. Bitte erklären Sie mir einen Prozess zu einem Sexualdelikt. Wie läuft er in der Regel ab?

Es gibt diese Erstvernehmung bei der Polizei, dann diese kontradiktorische Vernehmung im Ermittlungsverfahren. Wenn noch weitere Erhebungsschritte erfolgen müssen, werden die durch die Staatsanwaltschaft erfolgen, so lange bis die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt. Dann schreibt der Anklagerichter die Hauptverhandlung aus, dort werden Angeklagte zuerst gehört und dann alle möglichen weiteren Beweise vorgetragen bzw. Zeugen einvernommen, vielleicht ein Sachverständiger beigezogen, Sachverständigengutachten erörtert und idealerweise auch ein kontradiktorisches Vernehmen vom Opfer vorgenommen. Anhand all dieser Beweise soll ein Urteil gefunden werden. In der Regel sind das Schöffen-Verfahren.

Wie gehen Richter*innen mit mutmaßlichen Betroffenen um? Gibt es dabei einen anderen Umgang als bei anderen Verfahren?

Im Ermittlungsverfahren versucht man nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Niemand spricht gerne über sexuelle Gewalt, noch dazu mit einer fremden Person. Es ist sehr schwierig und man versucht zunächst immer ein gewisses Vertrauen aufzubauen, indem man zuerst andere Sachen fragt und das ganze Umfeld abfragt. Und sich dann langsam vortastet zum Punkt. Und was ich den Opfern aber auch vorher schon immer sage, ist dass ich keine Psychologin bin. Richter*innen sind keine Psycholog*innen. Bei Gericht wird mit dem Opfer weder die persönliche Befindlichkeit, noch die Traumatisierung aufgearbeitet, sondern bei Gericht wird versucht, die Fakten zu erarbeiten und ich versuche mich auf das zu fokussieren. Und das so schonend wie möglich. Aber ich glaube, wenn man so mit den Menschen redet, das verstehen sie schon auch gerade wenn sie traumatisiert sind. Ich glaube aber auch es hilft, weil sie sich denken „Okay, ich konzentriere mich jetzt nicht so sehr auf die Befindlichkeiten, sondern versuche wirklich so sachlich als möglich, mich an den Sachverhalt zu halten.“ Das trennen zu lernen, ist vielleicht auch gut. Diese Aufarbeitung, wie es mir dabei geht, was ist mir passiert, die passiert mit dem Psychologen oder der Psychologin bei der psychosozialen Prozessbegleitung. Und die andere Seite ist es, den Sachverhalt vor Gericht möglichst nüchtern zu erzählen.

Zukünftige Richterinnen und Richter sollen in ihrer Ausbildung stärker für Gewalt an Frauen sensibilisiert werden. Jetzt haben Sie schon sehr schön erklärt, dass Sie immer sagen, dass Sie eben keine Psychologin sind und hier faktisch arbeiten. Aber welche Schulungen gibt es?

Prinzipiell ist die Ausbildung zum Richter immer noch so, dass man, wenn man die Ausbildung durchläuft, in jedem Gebiet arbeiten können sollte, auch im Gebiet Sexualstrafrecht. Wenn man sich auf Spezialgebiete begibt, gibt es jede Menge Angebote an Seminaren, an Workshops, die man zur weiteren Fortbildungen besuchen kann und wo einem Taktiken beigebracht werden, wie man mit Opfern von sexueller vorgehen könnte. Also bei Interesse gibt es Möglichkeiten sich fortzubilden und ich denke, dass in aller Regel Personen, die in dem Bereich arbeiten, sich auch fortbilden werden. Es wird auch in der richterlichen Revision, die alle paar Jahre stattfindet, immer nachgefragt, ob man sich fortbildet. Und wenn das nicht der Fall ist, dann wird das negativ angemerkt. Also man hat auch Interesse daran, sich fortzubilden.

Halten Sie das denn für sinnvoll, das obligatorisch zu machen?

Also es gibt generell keine obligatorische Fortbildung, anders als zum Beispiel im medizinischen Bereich. Es würde nichts dagegen sprechen, das verpflichtend, besonders für Richter*innen bei Sexualdelikten, einzuführen. Ich meine aber, dass die Personen das normalerweise von sich aus ohnehin machen.

Worauf achten Sie besonders? Achten Sie auf die Sprache und Wortwahl im Umgang mit den Opfern?

Irgendwann muss ich zum Punkt kommen. Und das bedeutet, ich muss detailliert sexuelle Handlungen, die begangen wurden, abfragen. Und das ist natürlich nicht leicht, besonders mit fremden Personen. Dabei versuche ich vor allem das Opfer reden zu lassen und dann verwende ich dieselben Wörter wie das Opfer selbst. Das birgt die Möglichkeit, dass es weniger hart klingt. Wenn ich merke, dass das Opfer sich nicht getraut zu sprechen, versuche ich natürlich in möglichst blumigen Worten das Ganze zu umschreiben und es dem Opfer leichter zu machen. Es muss dann nur noch antworten „Ja, so war es“ oder „Nein, so war es nicht.“ Wobei es besser wäre, wenn das Opfer es von sich aus schafft es zu erzählen und am besten mit eigenen Worten. Und das ist die Kunst, die Menschen dazu zu bringen, das so zu erzählen, wie sie es erzählen können und möchten.

Warum glauben Sie, schweigen Opfer von sexueller Gewalt häufig?

Naja, ich glaube, das ist sehr einfach erklärt, weil es generell keine einfache Materie ist. Über Sex zu sprechen ist für viele nicht leicht, noch dazu mehr oder weniger öffentlich mit fremden Personen. Und dann noch in dem Zusammenhang mit Gewalt. Es ist ja auch nicht nur für Opfer sexueller Gewalt, sondern generell für Gewaltopfer oft schwierig. Oft weil es einem peinlich ist und weil man zuletzt Angst hat.

Im aktuellsten Tätigkeitsbericht der Strafjustiz für 2019 steht, dass es einen leichten Rückgang bei den Verurteilungen wegen sexueller Belästigung und öffentlichen geschlechtlichen Handlungen zu bemerken gibt. Wie beurteilen Sie solche Rückgänge von Verurteilungen?

Ich habe dazu keine Kenntnisse, aber der Strafrahmen ist eklatant angestiegen. Das Verfahren wurde mit der letzten Reform von 1 bis 10 Jahre auf 2 bis 10 Jahre angehoben, für Vergewaltigung. Es ist möglich, dass der ansteigende Strafrahmen dazu beiträgt. Aber das wäre eine reine Mutmaßung. Diese Prozesse sind sehr schwierig zu führen, weil oft Aussage gegen Aussage steht. Und wenn ich mir was wünschen dürfte für diese Prozesse: Es wäre ganz wichtig, dass die Opfer sich trauen würden, sofort nach der Tat Anzeige zu erstatten. Unmittelbar danach. Wo man nämlich noch die Möglichkeit hat, objektive Beweise zu nehmen, sprich eine gynäkologische Untersuchung durchzuführen. Das Gewand zu untersuchen, vielleicht Verletzungen festzustellen. Wenn das alles möglich ist, dann kommt es nämlich dazu, dass nicht mehr Aussage gegen Aussage steht, sondern dann hat man objektivierbare Beweise. Und das würde sicher zu einer größeren Verurteilungsprozentsatz führen. Weil wenn das Opfer erst nach Tagen, Monaten oder Jahren des anzeigt, macht es das extrem schwierig für eine Verurteilung.

Und glauben Sie, dass es zu wenig Verurteilungen vor Gericht gibt? Zu wenig abschreckende Beispiele?

Also wenn Sie mich fragen, der Strafrahmen ist hoch genug, es braucht keinen strengeren. Im Gegenteil, der strengere Strafrahmen führt eher dazu, dass vor allem die Schöffen, die ja über die Schuld und über die Strafe mitentscheiden, die Laienrichter sind und mit dem eigentlich ja gar nichts zu tun haben und möglicherweise nur einmal im Leben bei einem Prozess dabei sind, absolut davor zurückschrecken, derartig strenge Strafen zu verhängen. Das macht eine Verurteilung nur noch schwieriger. Das ist meine persönliche Meinung.

Warum dauern Sexualdelikt Prozesse oft jahrelang?

Ich glaube, bei uns am Landesgericht dauern die Prozesse nicht jahrelang. Ich kann mir vorstellen, dass in diesen Prozessen häufig ein Sachverständiger beigezogen wird. Gerade wenn das Opfer schwer traumatisiert ist, gibt es zuerst einmal einen Sachverständigen, der das Opfer anschauen muss. Ob die Person überhaupt aussagetüchtig ist, ob man es ihnen überhaupt derzeit zumuten kann. Oft kann das Opfer noch gar nicht vernommen werden, dann wartet man noch zu und versucht es zu einem späteren Zeitpunkt nochmal. In so einem Fall zieht das natürlich den Prozess in die Länge. Ansonsten habe ich eigentlich keine Erklärung dafür, warum ein Sexualstrafprozess länger dauern sollte als jeder andere Prozess. Bei uns werden diese Prozesse genauso wie andere Prozesse geführt.

Noch eine persönliche Frage: Sie werden wahrscheinlich innerhalb Ihrer Tätigkeit auch Schreckliches hören. Wie gehen Sie persönlich mit solchen Geschichten um?

Ja, das ist ja eine schwierige Frage. Ich glaube, das muss jeder mit sich selber ausmachen, der in dem Bereich arbeitet, ich spreche mit vielen Leuten darüber. Ich erzähle das natürlich anonymisiert, ohne Namen zu nennen. Aber einfach generell die Geschichten den Kollegen zu erzählen, hilft mir. Und ich glaube generell, dass ich von der Persönlichkeit schon so bin, dass ich das auch bis zu einem gewissen Grad nicht an mich herankommen lassen kann. Das muss man auch können, sonst kann man nicht in dem Bereich arbeiten.

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In diesem Jahr unterstützt FM4 im Rahmen der „Licht ins Dunkel“-Kampagne die Errichtung eines weiteren Tiroler Frauenhauses. Alle Informationen zum Projekt und zu Spendenmöglichkeiten findest du hier!

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