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ME/CFS: Der Kampf gegen (bürokratische) Windmühlen

Wer mit der Krankheit ME/CFS lebt, muss sich seine Energie gut einteilen. Die Kraft reicht oft nicht aus, um Alltagsdinge zu bewältigen. Doch zum schwierigen Alltag kommt für viele auch noch die Odyssee durchs Gesundheitssystem. Statt auf Unterstützung stoßen Betroffene oft auf Unverständnis und müssen über Hürden springen.

Von Jenny Blochberger

Sophie ist 10 Jahre alt und hat ME/CFS. Ihre Mutter Sabine Messner ist in Familienhospizkarenz gegangen, um für sie da zu sein. Sophie braucht einen Rollstuhl, um halbwegs mobil zu sein. Dieser wurde von der Krankenkasse aber nicht bewilligt: „Sie waren so lange auf Reha, da hofft man bei einem Kind auf Besserung“ war die Begründung. Noch ein weiteres Mal wurde die Verordnung von der ÖGK abgelehnt, dann schaltete die Familie den Patientenanwalt ein; der Rollstuhl wurde dann zwar genehmigt, allerdings wurden Komponenten wie Schiebegriff oder Fußstütze herausgestrichen.

Ähnliche Erfahrungen hat auch Stefanie Prohaska (Name von der Redaktion geändert) gemacht: laut Sanitätshaus gäbe es nur ein Rollstuhl-Modell, das die Kasse bewilligt. Dieses Modell hatte einige Features, die Frau Prohaska gar nicht braucht, ist schwer und teuer – kann dafür anderes nicht, was für sie wichtig wäre. Im Endeffekt muss sie sich aber gar nicht entscheiden – beide Rollstühle, das „Kassenmodell“ und ein günstigeres, das für sie viel besser geeignet wäre, wurden abgelehnt.

Dieter Berger hat eine 30 Jahre lange Odyssee hinter sich. Als Teenager hatte er eine Virusinfektion und wurde danach Husten, Schmerzen und Belastungsintoleranz nicht mehr los. Er war über Jahrzehnte hinweg immer wieder bei Ärzt:innen und bekam immer wieder falsche Diagnosen. Da keine Behandlung Erfolg hatte, probierte er auch alternative Heilmethoden aus und investierte darin viel Geld. Da physisch nichts gefunden wurde, wurden ihm Depressionen bescheinigt. Erst als 2021 Parallelen zu Long Covid auffielen, begann er den Verdacht zu schöpfen, es könne sich um ME/CFS handeln. Aufgrund seiner eigenen Vermutung konnte dann erst die richtige Diagnose gestellt werden.

FM4 unterstützt im Rahmen von Licht ins Dunkel heuer Menschen, die an ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue Syndrom) erkrankt sind. Wir informieren auf allen Kanälen - on air, online und via Social Media - über diese noch wenig bekannte Krankheit und sammeln für den Unterstützungsfonds der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS für Betroffene.

ME/CFS als Hürdenlauf

Das sind nur einige Geschichten, die Betroffene von ME/CFS erleben. Viele berichten auch davon, dass Off-Label-Medikamente, die ihnen helfen, von der Krankenkasse nicht übernommen werden, obwohl dieselben Medikamente etwa für Suchtkranke sehr wohl genehmigt werden. Viele Betroffene haben schlechte Erfahrungen mit niedergelassenen Ärzt:innen, die sich mit ME/CFS nicht auskennen und falsche Therapien verschreiben oder mit Chefärzt:innen, die ihnen ihre Schilderungen schlicht nicht glauben. Wer es sich leisten kann, weicht deshalb oft auf Wahlärzt:innen aus.

Was sagt die ÖGK, die Österreichische Gesundheitskasse, zu der Situation ME/CFS-Betroffener? Ist das österreichische Gesundheitssystem zu rigide, um adäquat auf eine Krankheit einzugehen, von der man noch zu wenig weiß? Wie wird das Wissen, das es dazu bereits gibt, an die medizinischen Fachkräfte weitergegeben? Und was wird das geplante Referenzzentrum für Fortschritte bringen?

Wir haben dazu mit Dr. Andreas Krauter, Leiter des medizinischen Fachbereichs bei der ÖGK, gesprochen.

FM4: Bei ME/CFS ist es ja so, dass die Krankheit noch zu wenig bekannt ist. Auch in der Ärzteschaft. Und dass deswegen sehr viele Dinge nicht rechtzeitig erkannt werden. Oft bekommt man eine Diagnose erst sehr spät, nach vielen Fehldiagnosen. Was wird denn getan, damit ME/CFS bekannter wird?

Dr. Andreas Krauter: Die Folgezustände nach Virusinfektionen und dann als gravierendste Ausformung ME/CFS, das gibt es ja eigentlich schon lange. Wir hatten in den vergangenen Pandemiejahren eine unglaubliche Anzahl an Viruserkrankungen, also Covid-19. Daher kommt es auf einmal zu so einer Häufung von diesen Post-Covid-Syndromen. Und deswegen, glaube ich, richtet sich jetzt auch erst die Aufmerksamkeit auf dieses Krankheitsbild. Wenn man früher vielleicht 35 Fälle hatte, wo man gesagt hat, das dürfte in diese Richtung gehen, so geht das heute doch weit über die Hunderte hinaus. Auch in Österreich ist eine Gruppe an Betroffenen da, die ganz einfach massive Symptome hat.

Hat man da Zahlen dazu?

Wir haben natürlich Zahlen, weil wir 2022 dann angefangen haben, das zu dokumentieren. Das war zu dem Zeitpunkt, wo die Meldung der Erkrankung möglich war. Zu vorher haben wir keine Zahlen vorliegen, leider, obwohl wir gefragt haben. Das ist immer die Frage der Daten, wer darüber verfügen kann. Jetzt werden es ungefähr 500 bis 600 Fälle in Österreich sein, die doch gravierende Langzeitauswirkungen haben.

Wenn Sie jetzt von 500 bis 600 Fällen sprechen und ich habe bis zu Zehntausende gehört - woher kommt denn dieser Unterschied?

Weil der National Health Service in Großbritannien solche Dinge sehr gut dokumentiert, sind solche Annahmezahlen gekommen. Und nachdem es in wenigen Staaten international eine wissenschaftliche, fundierte Registrierung gab, werden dann solche Zahlen übernommen. Daher kann ich mich nur auf das beziehen, was ich gesehen habe. Diese Anzahl, die ich Ihnen genannt habe, sind tatsächliche Langzeitkrankenstände.

Das heißt, das sind auch die mit der offiziellen Diagnose ME/CFS?

Genau.

Aus einer aktuellen US-Studie des National Center for Health Statistics geht hervor, dass 1,3% der Erwachsenen in den USA in den Jahren 2021-2022 an ME/CFS erkrankt waren. Auf Österreich umgerechnet wären das über 100.000 ME/CFS-Erkrankte.

Es gibt ja auch sehr viele, die diese Diagnose noch gar nicht erhalten haben oder wo die Abklärung sich schwierig gestaltet.

Primär laufen die aber, so bekommen wir das von den Niedergelassenen, als Post-Covid-Syndrom. Wir haben also angefangen, auch diese Dinge strukturiert zu erfassen, damit wir auch ein Bild entwickeln können, wie die Situation tatsächlich ist.

Betroffene sagen oft, dass sie bei ihrer Hausärztin, ihrem Hausarzt nicht ernst genommen werden, dass ihnen nicht geglaubt wird. Viele weichen dann zu Wahlärzt:innen aus. Gibt es da Bestrebungen, in die Weiterbildung oder Aufklärung zu investieren?

Die S1-Leitlinie ist ein Tool für Ärzt:innen mit Informationen und Empfehlungen zu postviralen Erkrankungen, speziell Long Covid.

Wir haben im Auftrag des Obersten Sanitätsrats ein Regelwerk erarbeitet, eine S1-Leitlinie für die niedergelassene Ärzteschaft, mit der wir das grundlegende Basiswissen vermitteln. Das ist ja ein sehr buntes Krankheitsbild. Man muss aber dazu sagen, wir wissen viel zu wenig darüber, und das ist ein Prozess, der sich weiterentwickeln muss. Wir müssen also darauf achten, frühzeitig auch den Transfer des Wissens zur niedergelassenen Ärzteschaft sicherzustellen, die ja die erste Anlaufstelle ist. Und dort muss man dann auch die Awareness haben, dass man sagt, wenn diese oder jene Auffälligkeiten bestehen, dann könnte das in die Richtung gehen und dann muss ich das weiter abklären. Was machen wir als Sozialversicherung, als ÖGK, dazu? Wir haben die Kosten für den Druck dieser S1-Leitlinie übernommen und wir schicken das jetzt auch an die niedergelassene Ärzteschaft aus, damit dieses Wissen gut kommuniziert ist.

Ist die S1-Leitlinie nicht für alle postviralen Krankheiten gedacht? Also nicht speziell für ME/CFS?

Sie hat aber ihre speziellen Kapitel dazu. Also das ist ein 70-oder-mehr-Seiten-Werk, wo diese Dinge alle berührt sind.

Was ist denn bei Off-Label-Medikationen angedacht? Welche Off-Label-Medikationen und -Therapien werden jetzt geprüft?

Bei den Medikamenten gibt es zu derzeit sieben die Erfahrung, dass das bei bestimmten Symptomenkomplexen eine therapeutische Möglichkeit ist. Das wollen wir auf der ÖGK-Ebene so organisieren, dass die niedergelassene Ärzteschaft sie trotzdem aufgrund des Krankheitsbildes verschreiben kann, auch wenn es eine Off-Label-Therapie ist.

„Off-Label-Use“ bedeutet wörtlich „andere Verwendung als auf dem Etikett“ und sinngemäß „nicht bestimmungsgemäßer Gebrauch“. Gemeint ist damit, dass ein Arzneimittel gegen eine Krankheit eingesetzt wird, für die es von den Zulassungsbehörden keine Genehmigung hat. Oder dass es für eine andere Personengruppe eingesetzt wird, als es eigentlich zugelassen ist.

Wenn Sie sagen, Sie wollen das so organisieren, dass die niedergelassene Ärzteschaft das auch verschreiben darf - wie wird denn das organisiert?

Das besprechen wir gerade. Einerseits, dass wir sagen, diese und diese Medikamente können so verschrieben werden und das wird dann an die niedergelassene Ärzteschaft kommuniziert, damit diejenigen die Möglichkeit haben zu sagen, ja, da habe ich so einen Fall und da weiß ich auch aus der S1-Leitlinie, dass das ein sinnvoller Schritt wäre, daher kann ich das verschreiben.

Der Gesundheitsminister hat ein Referenzzentrum für postvirale Erkrankungen angekündigt. Was wird das alles tun?

Da gehen die Diskussionen noch auseinander und da sind wir auch nicht direkt eingebunden. Es wird primär darum gehen, dass man Wissen, das es auf internationaler Ebene gibt, zusammenzieht. Also Wissensvermittlung, Informationsstatus der Wissenschaft inklusive der Einarbeitung: Was haben wir an Daten in Österreich und was machen wir damit? Es ist notwendig, dass auch Österreich sich um dieses Feld kümmert. Die USA haben jetzt gerade 1,5 Milliarden Dollar freigegeben, damit man sich mit dem Thema beschäftigt und Informationen zusammenbekommt.

Wie viel Geld gibt es dafür in Österreich?

Das kann ich Ihnen nicht sagen, weil ich in diese Diskussion nicht eingebunden bin. Da müssen Sie das Ministerium fragen.

Viele Betroffene gehen zu Wahlärzt:innen, weil die mehr Expertise haben, was das Feld betrifft. Das kostet auch viel. Manche Angehörige müssen ihre Arbeit auf Teilzeit beschränken, damit sie etwa die kranke Tochter versorgen können. Oder Betroffene sind total auf ihre Angehörigen angewiesen. Ist das System der ÖGK nicht ein wenig starr und geht zu wenig auf die Situation der Betroffenen ein?

Die Versorgung ist ein ganz wichtiges Thema, aber das fällt nicht in den Auftrag der KV-Träger. Ich bitte um Verständnis, dass wir hier abgrenzen müssen. Es ist nun mal in Österreich anders organisiert. Wo wir sehen, dass eine Off-Label-Versorgung Sinn macht, geben wir absolut vor, dass diese Dinge möglich sind. Für Heilbehilfe und Hilfsmittel gibt es ein Regelwerk, was möglich ist und was nicht möglich ist. Und wir sind natürlich konstant damit konfrontiert, dass man das aufdehnen möchte, dass man darüber hinaus noch zusätzliche Dinge haben will. Ich verstehe das aus der Sicht des Versicherten, nur muss auch klar sein: Damit das funktioniert, müssen auch die entsprechenden Mittel hineinkommen. Und das tun sie heute nicht. Das ist sozusagen ein sozialer Vertrag und wir können uns ganz einfach nicht leisten, das ständig zu überschreiten, sondern es muss im Rahmen möglich sein, die Gesamtbevölkerung mit ihren Erkrankungsbildern zu versorgen.

Ich erzähle kurz einen Fall. Eine Betroffene hat einen Rollstuhl beantragt. Beim Sanitätshaus wurde gesagt, es gibt von der ÖGK genau ein Modell, das sie beantragen kann. Dieses Modell kann Dinge, die sie nicht braucht und kann andere Dinge nicht, die sie brauchen würde. Ein anderes Modell, das für sie besser wäre, wäre sogar günstiger, aber es ist nicht von der ÖGK vorgesehen. Das wäre jetzt gar kein Fall von mehr Geld, sondern in dem Fall wäre sogar gespart worden, wenn man auf die Bedürfnisse der Patientin eingegangen wäre.

Die Geschichten und die persönlichen Wahrnehmungen, die dahinterstehen, da denke ich, müssen wir vorsichtig sein. Das ist ganz pragmatisch zu sehen. Es ist zu überprüfen und was es wiegt, das hat‘s. Dort, wo wir feststellen, dass es bessere Lösungen gibt, tun wir das liebend gerne, weil es geht ja um die Versorgung der Versicherten. Aber wir unterliegen der Kontrolle eines gesetzlichen Auftrages und das ist auch zu berücksichtigen.

Wie gehen Sie denn um mit Angeboten wie Hausbesuche oder Telemedizin, die Betroffene von ME/CFS brauchen?

Die Möglichkeiten sind gegeben. Da werden die Möglichkeiten, das ist unsere Wahrnehmung, auch oft gar nicht genutzt.

Oder es wird gesagt, das ist nicht möglich. Betroffene laufen manchmal gegen eine geschlossene Tür.

Wenn ich so etwas höre, dann muss man darüber diskutieren. Aber unser Ansatz ist natürlich, dass wir solche Dinge ermöglichen. Gerade in der Pandemie haben wir mit der elektronischen Visite die Grundlagen dafür geschaffen. Es war jedwede Form von Therapie, die geht, allen möglich.

Weil ME/CFS auch von COVID beziehungsweise Long-COVID kommen kann und jetzt auch wieder die Zahlen steigen: Gibt es Empfehlungen, die darauf abzielen, dass man weniger COVID-Kranke und damit auch weniger ME/CFS-Erkrankungen hat?

Masken tragen, Schutzmaßnahmen, Hände waschen, Lüften in Räumlichkeiten und Impfen. Natürlich sind wir auch bemüht, diese Möglichkeiten in die Bevölkerung zu tragen. Je mehr Menschen diese Sicherheitsvorkehrungen treffen und sich auch impfen lassen, umso geringer wird auch das Risiko für die Gesamtbevölkerung.

Was wird sich denn in einem Jahr geändert haben für die Situation von ME/CFS-Betroffenen, auch durch das Referenzzentrum? Wann kann man mit welchen Änderungen rechnen?

Wir werden die Möglichkeiten, die die Medizin heute anbietet, intensiv ausschöpfen. Wir haben gelernt, dass wir mit der Impfung keinen hundertprozentigen Schutz erzeugen können. Wohl aber, dass auch wir als Organisation oder die Ärztinnen und Ärzte darauf aufmerksam machen, dass man nicht nur die akute fieberhafte Erkrankung, sondern auch mögliche Folgesymptome verhindert. Das ist ganz wichtig. Und ich glaube auch, dass es einen wissenschaftlichen Fortschritt geben wird.

Das heißt, Sie gehen davon aus, dass bestimmte Therapien, die jetzt noch Off-Label sind, dann auch schon offiziell verfügbar sein könnten?

Ja, wobei, das betrifft immer bestimmte Symptomgruppen. Und da geht es nicht nur um das Off-Label-Medikament; es kann sein, dass manche Dinge verschwunden sind, weil sie nichts bringen, etwas dazugekommen ist oder vielleicht etwas Neues entwickelt worden ist, das uns Erfolg bringt.

Und wird es einen konkreten Leitfaden für Ärzte, Ärztinnen geben, damit sie sich an etwas halten können?

Das ist schon der Leitfaden, die S1-Leitlinie. Und natürlich müssen wir sicherstellen, dass alles, was fundiert und neu dazukommt, auch kommuniziert wird, aber das wird sicherlich laufen.

FM4 Auf Laut zu ME/CFS - Die unbekannte Krankheit

Wie ergeht es Menschen mit ME/CFS? Warum werden sie häufig stigmatisiert, falsch diagnostiziert und oft nicht entsprechend im Gesundheits- und Sozialsystem versorgt? „Es gibt ein paar Ärzte, die ich an beiden Händen abzählen kann. Es ist weiterhin ein Fight, und es bewegt sich nichts freiwillig“, so Kevin Thonhofer, Obmann der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS. Claus Pirschner spricht am 12.12.2023 in FM4 Auf Laut ab 21 Uhr mit ihm, mit Betroffenen und mit Prof.in Kathryn Hoffmann (Zentrum für Public Health, Med Uni Wien).

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