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Buchcover Dirk Gieselmann "Der Inselmann"

Kiepenheuer & Witsch

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Dirk Gieselmanns Roman „Der Inselmann“

Zwischen Märchen und harter Realität. „Der Inselmann“ von Dirk Gieselmann ist ein poetischer Roman über Prägungen, Schicksal, Freiheitsliebe und den Kampf gegen die Unmenschlichkeit.

von Andreas Gstettner-Brugger

Im entlegenen Deutschland in den sechziger Jahren: Das Ehepaar Roleder haben einen Entschluss gefasst. Sie wollen mit dem zehnjähriger Sohn Hans dem tristen Stadtalltag entfliehen.

Ich kann nicht mehr, sagte der Vater.
Wem sagst du das, sagte die Mutter.
Wir müssen hier weg.
Wohin sollen wir denn gehen?
Auf die Insel.
Bist du verrückt?
Der Vater holte tief Luft für die Antwort und blieb sie dennoch schuldig.

Buchcover Dirk Gieselmann "Der Inselmann"

Kiepenheuer & Witsch

Der Inselmann von Dirk Gieselmann ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

In einer nebeligen Winternacht schippern sie auf eine kleine Insel inmitten eines Sees. Ein einfaches Haus und ein verlassener Schafstall sind die einzigen Zeichen eines ehemaligen Bewohners dieser Insel. Der meist stumme Vater fügt sich in die unwirtliche Situation ein, während sich die Mutter schweigend um das karge Essen und den Sohn sorgt.

Hans lebt sich schnell ein, erkundet die Insel und findet seinen eigenen Rhythmus mit der Natur. In seinem Innersten hofft er, dass nun zwischen seinen Eltern und ihnen als Familie alles gut werden wird.

Hans war nur ein Junge, ohne Schnurspanner und Theodolit, ohne Stab und ohne Vergleich. Er konnte die Insel in einer halben Stunde umrunden, und doch war sie für ihn von Beginn an die größte der Welt. Er stellte sich vor, der Findling sei ein Bergmassiv, die Wiesen das Grasland und der See ein Ozean mit Wracks darin, Kraken und Monstern. Das dümpelnde Treibholz da draußen: ein Frachtschiff aus der Ferne, das die neuen Tage brachte.

Doch schon bald reißt ihn die Schulpflicht aus seinem Paradies und die städtische Realität mit strengen Regeln und Gewalt unter den Schülern holt ihn ein.

Als Hans versucht, sich diesem Druck und dem Schulalltag zu entziehen, nimmt sein Leben eine tragische Wende. Sein Herzenswunsch auf die Insel zurückzukehren hilft ihm, die institutionelle Unterdrückung durchzuhalten. Wir er auf die Insel zurückkehren und was wird er dort vorfinden?

Zwischen mystischem Märchen und harter Realität

Der deutsche Autor Dirk Gieselmann hat einen spannenden Roman geschrieben. Seine sehr knappen Sätze, die reduzierte und doch poetische Sprache versetzen uns sofort auf die kleine Insel inmitten des Sees. Wir sitzen mit dem kleinen Hans am Ufer, spüren den Wind, hören leise die Wellen ans Ufer rauschen, riechen den schlammigen Untergrund unter seinen Füßen und blicken mit ihm in die Ferne. Über allem liegt der Hauch der mystischen Erfahrungen eines Kindes und dessen Sehnsucht nach Geborgenheit.

Gieselmann versteht es dabei gut, das Inselleben weder zu romantisieren noch zu dramatisieren. Hart ist der Alltag zwischen Schafe scheren, dem Versuch, Kälber zur Welt zu bringen und Feuerholz zu sammeln. All das wird allerdings fast wie beiläufig erzählt. Vielmehr geht es um die eindrückliche Atmosphäre dieser vermeintlichen Freiheit, die Hans’ innere Welt prägt. Wir erleben ihn im Einklang mit der Natur und mit der dadurch aufkeimenden Hoffnung auf eine positive, herzliche Entwicklung seiner Familie. Doch es scheint so, als ob die zart gezeichneten Figuren, die auf der Insel vor den äußeren Umständen in die innere Einsamkeit fliehen, ihre Prägungen nicht abschütteln können.

Immer wieder lässt uns der Autor daran zweifeln, ob diese Geschichte sich wirklich so zugetragen hat. Die Zeitebenen verschwimmen manchmal im spiegelglatten Wasser, das die Insel umgibt. Die Fragen, die sich Hans stellt und der innere Erzähldialog lassen den Raum offen, es könne sich hier auch um ein Märchen handeln. Einzig allein die Insel ist die stoische Konstante, der stumme Zeuge des Kampfes um Freiheit und Geborgenheit in einer schon damals von Zucht und Ordnung, Gewalt und Leistung geprägten Welt.

Dirk Gieselmann schafft mit knapper und klarer Sprache eine dichte Atmosphäre, wechselt zwischen Familiengeschichte und Coming-Of-Age Drama, verwebt die unerbittliche Schulrealität der sechziger Jahre mit einer heldenhaften Sage und stellt nebenbei grundphilosophischen Fragen: Wie hoch ist der Preis, den man für Freiheit zahlen muss? Was bedeutet Freiheit für den Einzelnen, was für die Gesellschaft? Was passiert, wenn wir uns abschotten und ins Exil begeben? Ob man „Der Inselmann“ als Kampf um Freiheit und die Würde des Menschen oder als modernes Märchen liest, bleibt dabei ganz uns überlassen. Auf alle Fälle hallt dieser außergewöhnliche Roman noch lange nach.

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