FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Blur

Reuben Bastienne Lewis

With godspeed

Blur veröffentlichen ihr neues, neuntes Album „The Ballad Of Darren“. Es ist sehr gut, am liebsten würde man sagen: Hab’ ich ja gewusst.

Von Lisa Schneider

Was ist Würde und wo kann man sie kaufen? Schreib es rein ins große Lebensbuch, zumindest dann, wenn du nicht mehr 17 Jahre alt bist. Sie ist kein Geschenk und auch nichts Unabkömmliches, vielleicht ist sie nicht mal immer notwendig. Schöner ist es sicher mit.

Blur LIVE

Blur spielen aktuell noch weitere Konzerte in Europa, unter anderem am MEO Kalorama Festival in Lissabon, Portugal, gemeinsam mit Acts wie Arcade Fire, Foals oder Florence + the Machine.

„I just looked into my life“ sind die ersten Worte, die Damon Albarn am neuen Blur-Album singt, das Lied heißt „The Ballad“ und ist verzaubert. Es ranken sich nämlich nicht nur emotionale Übertaten zwischen diesen Noten und Zeilen, auch die Geschichte ist sehr schön: Seit 20 Jahren steht dieses Lied, mal früher schlicht „half a song“ betitelt, im Notizbuch, und jetzt, auf Drängen des langjährigen Heads of Security - sprich, eines Teils der großen Blur-Work-Fam - wurde das Lied endlich fertiggestellt. Dieser Mensch ist der Band sehr wichtig, sie haben schließlich das Album nach ihm benannt. Darren freut sich, sollte er auch.

Diese Geschichte von guten Menschen, die einen schon sehr lange umgeben, das ist eigentlich auch die Geschichte von Blur. Da war Trennung, und da waren Solo-Dinge, und da waren Über-Solo-Dinge wie etwa die Band Gorillaz. Seit 2009 spielen Blur immer wieder mal Shows in UK, ganz können sie es doch nicht lassen, aber dass es für ein Album reicht, hat sich so doch niemand gedacht. Dann hat Wembley angerufen.

Damon Albarn ist gerade noch auf US-Tour mit besagter anderer Band, als ihn das alles erreicht und er sich zuerst einmal die Haare rauft und fragt, ob den Menschen die Hitliste der vergangenen Jahrzehnte für zwei so legendäre Stadion-Shows reicht, ob da nicht noch was fehlt. Er fängt an zu schreiben. Deadlines sind eine gute Sache, das mag niemand zugeben, es ist deshalb nicht weniger wahr.

Blur Albumcover "The Ballad Of Darren"

Warner Music

Schon auch ein sehr gutes Cover: Das neue, neunte Blur-Album heißt „The Ballad Of Darren“.

Innerhalb von zwei Monaten steht dieses neue Album, es ist das neunte, es ist erstaunlich. Damon Albarn bezeichnet es als das erste „legit“ Blur-Album seit „13“ (puh ja, und den Opener dieses Albums kennt ihr hoffentlich). Im Rush der Aufnahme erinnert es sogar fast an das Debüt 1993, als noch die Plattenfirma fest im Genick saß und liebevoll gepeitscht hat: Macht was draus, ihr werdet eventuell noch groß.

Es geht sehr viel ums Verlieren und Verlorengehen in diesen neuen Liedern von Blur. Dabei geht es aber nicht einmal nur um das ehemals oder vielleicht eh nie geliebte Gegenüber, sondern auch um Orte, Umstände und Gefühle: „I have lost the feeling that I thought I’d never lose“, singt Damon Albarn auf „Barbaric“, genau so ist es, schrecklich, an anderer Stelle: „growing tall with the pain“ („The Everglades“). „Goodbye to you and me“ („Goodbye Albert“), „there’s nothing in the end only dust“ („Russian Strings“), so geht’s dahin, aber dann auch immer mit schnellem Puls, weil vorbei ist es eben noch nicht: „My heart it quickened“ („The Narcissist“).

Es geht sehr viel um Zeit und wie man sie nicht ändern kann, egal ob rück-, vor-, oder seitwärts blickend. Das Alter ist eine Sache, die, wenn zerkaut, alles ruiniert, vor allem aber ist sie keine Kategorie, die uns in Sachen Musik interessieren soll. Hier ist kein Plan oder Bemühen oder Zu-viele-Knöpfe-Drücken, und vielleicht ist das Würde. Leben und machen, am besten das, was man am besten kann, das hat immer auch sehr viel mit Liebe zu tun. Übers Ende nachdenken will hier sowieso niemand, auch wenn Damon Albarn sagt: „We’re near the final chapter of this book“. Was soll er aber auch sonst sagen.

Nach den Themen des Albums gefragt, antwortet Damon Albarn, man solle sich ein großes, weites, schönes Fenster vorstellen, durch das man schaut und die Lieder als unterschiedliche Landschaften wahrnimmt. Klingt super übertrieben, ist es aber nicht, vielleicht geht es im Kopf so leichter: Stellt euch vor, ihr habt immer aus dem gleichen Fenster gesehen und jetzt geht ihr im Raum herum und wählt ein neues. Das ist der Ort, an dem diese neuen Blur-Songs laufen, das ist ein gutes Tattoo-Motiv für den linken Unterarm, das ist überhaupt mal ein Vorschlag zur Lebenseinstellung. Sich ab und zu umdrehen und alles von Grund auf neu denken.

Zurückschauen also auf den Katalog einer Band, bei der man vielleicht bisher nur im linken kleinen Finger gespürt hat, wie sehr man sie schätzt. Das ist die Zeit fürs Zerreden all der alten und älteren Lieder in sehr langen Sommernächten, auch eine Zeit, Blur-Bestenlisten zu erstellen, weil eine gute Band ist auch immer die, die das eigene Werk referenziert, ohne abzukupfern („St. Charles Square“ - immer noch bestes Arthouse-Blur seit Mitte der 90er). Stellt euch vor, wenn auch kein Vergleich nach Größenordnung, The Hives, oder, keine Ahnung, Kaiser Chiefs hätten das probiert.

„The Ballad Of Darren“ darf man sich als ein Best-of im Sinne von Könnenszusammenfassung denken, nicht also das, das der Großonkel zu Weihnachten bekommt, sondern das, das du dir an die Lebenswand hängst. Die meisten Menschen sind keine Roboter und jede:r hat seine und ihre Geschichte, hoffentlich sind sie alle von Musikwegbegleiter:innen umgeben. Zumindest könnte das das Bauchgefühl erklären, das sich bei Alben wie diesem hier einstellt: Es wird wachsen und noch sehr groß und größer im Kopfherz werden, und natürlich ist das erfunden. Die Feldforschung hat ergeben, Objektivität ist in Sachen Musik(-kritik) eine immer mehr überbewertete Sache.

Und wenn es dann doch kurz sein muss, bitte sehr, ranken wir dieses Ding. 10/10, nein, 13/10, immer ein gutes Drittel drüber, so ist das, wenn hochemotional. „What do you really want“, singt Damon Albarn als letzte Worte im Lied „The Heights“ (nahezu perfekt, man darf es fast aufnehmen in die heilige Dreifaltigkeit „The Universal“- „Narcissist“ - „Tender“), und dann: „What do you really need?“ Zuerst fühlen, dann fallen, frei nach Joyce, jetzt auch frei nach Blur, das ist schon wieder so ein großes Album.

Aktuell: