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Olivia Rodrigo

Zamar Velez

Mit „Guts“ wird Olivia Rodrigo der größte Popstar der Welt

Es wird wahrscheinlich die Umlaufbahn des Pop-Planeten ändern. Olivia Rodrigo veröffentlicht ihr zweites Album „Guts“ und startet damit eine neue Ära.

Von Christoph Sepin

Es ist gut, Fan zu sein. Weil man von seinen Idolen einiges lernen kann. Letztes Jahr ging Olivia Rodrigo quasi auf Best-of-Tour um die Welt und holte sich ihre Heldinnen auf die Bühne: Natalie Imbruglia, Avril Lavigne, Lily Allen. Alles gute Leute, die ewige Mitsinglieder geschrieben haben, „Torn“ und „Complicated“ und „Fuck You“. Inspiration und Feedback waren wichtig und richtig, auch von den Rodrigo-Idolen St. Vincent und Jack White. Das erste Resultat der Popstarlektionen war vor ein paar Wochen der Track, der den Miley-Cyrus-Superhit „Flowers“ nach Monaten an der Spitze der Sommercharts ablöste: „vampire“ ist Abrechnungssong, Stadionhymne, Produktionsperfektion und der ideale Teaser für das, was jetzt draußen ist: das zweite Olivia-Rodrigo-Album „Guts“. Es ist Zeit für den Herbst.

Ein paar der besten Lieder des Jahres

„Guts“ bedeutet, das Innerste nach außen zu kehren, Mut zu beweisen und den eigenen Platz zu finden. Vorbei sind Orientierungsversuche wie noch auf der ersten Platte „sour“, der Führerschein ist längst geschafft, die Welt nicht mehr ganz so brutal, neue Themen für große Songs mussten gefunden werden. Es geht sich aus: Auf diesem Album sind die besten Lieder, die Rodrigo geschrieben hat, und ein paar der besten, liebsten, wütendsten und selbstkritischsten des Jahres.

Wie klingt der Pop jetzt? Nach Gitarren, deren Verzerrung nicht bis elf, aber zumindest bis sieben aufgedreht ist. Ziemlich vorbei sind die Zeiten von „Ich sitze allein in meinem Schlafzimmer und schreibe in mein Tagebuch, ich sitze übers Piano gebückt und flüstere sanft ins Mikrofon“. Die neue Ära startet im Proberaum, mit Eierkartons auf die Wände geklebt, damit sich die Nachbar:innen nicht schon wieder über den Lärm aufregen. Musik wird jetzt draußen gefeiert, mit den allerbesten Freund:innen; und vielleicht traut man sich dann doch sogar einmal, einen kleinen Moshpit zu starten.

Es ist ganz schön viel Verantwortung, so ein Superstar zu sein, dass man mit einem Albumrelease die Umlaufbahn des Pop-Planeten ändern kann. Rodrigo, wahrscheinlich immer schon sehr klug, aber jetzt noch klüger, weiß das fix. Aber auch einige andere Sachen über sich: Dass das Leben als Popstar eines des großen Privilegs ist, ist klar. Dass man trotzdem Probleme haben kann auch, obwohl man sich ein bisschen dafür schämt. Vielleicht ist das der Grund für ihre auf „Guts“ hörbare Unzufriedenheit. Nicht unbedingt mit der Welt, sondern mit sich selbst.

I am light as a feather, I’m as stiff as a board

Menschen können ganz schön furchtbar sein, vor allem, wenn sie sich in Gruppen zusammenrotten und anderen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten oder welche Rollen sie einzunehmen haben. Bist du Popstar Nummer eins und hast die Maschine schon mit 20 durchgespielt, dann hast du jede Menge Bullshit gesehen. „​all-american bitch“ heißt der neue, fantastische Albumopener, und der ist auch irgendwie Sequel zum „sour“-Eröffnungssong „brutal“.

Ich bin eh alles, was ihr von mir wollt, heißt es da. Ich bin immer gut gelaunt und lieb und höflich, und was wollt ihr denn noch alles? „I know my age, and I act like it“ und „I’m grateful all the time“ und „I’m pretty when I cry“ (der Lana-Del-Rey-Shoutout). Es ist schon erstaunlich und auch nicht, weil komplett normal, dass jemand so US-zentrische Probleme besingen kann und Menschen in Tulln, Rostock, Lissabon und Osaka relaten können. America is the world, da können wir Balladen über das Aufwachsen als homeschooled girl anhören und denken: „I get you!“

Das ist natürlich, wie es im massentauglichen Konzeptpop sein soll, nicht nur ein Album für Teenager, sondern für alle. Zugehörigkeitsprobleme, Einsamkeit, Missverständnisse, Wut und Scham gehen nicht einfach weg, wenn man plötzlich eine Zwei vorne beim Alter stehen hat. Dass man die Lyrics nach dem ersten Hören bereits halb auswendig kann, deutet darauf hin, dass schon bald die Karaokebars der Welt mit Rodrigo-Songs wummern werden. „Wanna kiss his face with an uppercut, I wanna meet his mom, just to tell her her son sucks.“ Ich mein, super, oder?

Bald schon der größte Popstar der Welt

Es gibt sie, diese paar Veröffentlichungen jedes Jahr, egal wie groß oder klein, die wichtig sind - und das heißt: nicht nebensächlich. „Guts“ kannst du nicht nur hören, darüber kannst du auch gut mit Leuten reden. Kannst Songzeilen analysieren oder blöd finden, kannst dich fragen, ob da ein Taylor-Swift-Disstrack drauf ist, kannst sagen: „Das ist ja einfach Nullerjahre-Revival“ oder „Wir haben das früher viel besser gemacht“. Oder alles entdecken und alles fühlen. Und dir denken: Ja, ich fühl mich auch manchmal faul, dumm, schlecht, hässlich, verwirrt, überfordert, unzufrieden.

Es ist Zeit. Zeit für die Musikerin, die mit den anderen größten Celebrities der Welt entweder BFFs ist oder Beef hat, die Joe Biden im Weißen Haus besucht, die einige der erfolgreichsten Chartsongs aller Zeiten veröffentlicht hat, jetzt selbst der größte Popstar der Welt zu werden. „Guts“ wird wahrscheinlich das angestaubte Konzept Popalbum wiederbeleben. Wir haben ja keine Ahnung, wie unglaublich erfolgreich Rodrigo noch werden wird. Hier noch eine Lieblingszeile: „When am I gonna stop being great for my age and just start being good? When will it stop being cool to be quietly misunderstood?“

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