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Mirrianne Mahn

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„In die Welt rausgehen, mit dem Wunsch zu lieben“

Mirrianne Mahn ist Theatermacherin, Autorin, Aktivistin, Politikerin und Mutter zweier Kinder. Ihr Debütroman „Issa“ kreist um die Frage, die sie ihr Leben lang unfreiwillig begleitet: Woher kommst du?

Von Anna Katharina Laggner

Eine gute Schwangerschaft, eine leichte Geburt und ein gesundes Kind: das wünscht sich jede Schwangere, auch die Protagonistin Issa. Und überall auf der Welt urteilt die Gesellschaft darüber, was gut, richtig und wichtig ist für die Schwangere. Issa ist in Kamerun geboren, lebt aber in Deutschland. Ihre Mutter zwingt sie, nach Kamerun zu fahren, um sich Ritualen zu unterziehen, der sich eine schwangere Frau vor der Geburt des ersten Kindes unbedingt unterziehen muss. Der Kindsvater wird in Deutschland gelassen, die Ahnen befinden sich definitiv in Afrika. Issa muss ihnen Geschenke machen, diese Ahnen, wie ein Heiler ihr sagt, „mit Ritualen bezirzen.“ In einer Kleinstadt in Kamerun entkleidet sie sich im Hinterraum eines Internetcafes bis zur Unterwäsche, der Heiler zieht einen Kreis aus Salz um sie, ein Kleid wird in einer stinkenden Flüssigkeit gebadet, die Oma wäscht Issa mit einer Flasche Evian-Wasser die Hände. Mit anderen Worten: Issa steht knietief im Afrika-Klischee der Abwehrzauber, koloniale Versatzstücke (siehe das Evian-Wasser) inklusive.

So wie ihre Protagonistin ist auch Mirrianne Mahn in Kamerun geboren, aber in Deutschland aufgewachsen, wo sie nach wie vor lebt. Mirrianne Mahn schreibt leichtfüßig, schnörkellos und mit einem guten Schmäh. Dabei sind die Themen alles andere als leicht: „Issa“ handelt von Frauenschicksalen einer Familie über rund 100 Jahre hinweg. Issas Schwangerschafts-Reinigungs-Aufenthalt in Kamerun spielt im Jahr 2006. Die Geschichte ihrer Vorfahrin Enanga beginnt im Jahr 1903. Enanga wird von einem deutschen Kolonisator vergewaltigt und schwanger. In ihrer Geschichte geht es um die Problematik eines unehelichen Kindes, um Polygamie, um das eingeschränkte Selbstbestimmungsrecht von Frauen, um Unterdrückung und Macht, um das, was Issa vererbt wurde.

Anna Katharina Laggner hat Mirrianne Mahn zum Interview getroffen und mit ihr über Liebeswillen, intersektionalen Feminismus und die Frage „Woher kommst du?“ gesprochen.

Anna Katharina Laggner/FM4: In deinem Roman „Issa“ fährt eine junge Frau zurück in ihr Geburtsland Kamerun, um sich traditionellen Ritualen zu unterziehen: Abwehrzauber, Kriegsheiler, Schamanen und Medizinmänner, das klassische Afrikaklischee eigentlich. Wie ist es dir beim Schreiben ergangen, diese Dinge zu beschreiben, aber nicht in Stereotype zu verfallen?

Mirrianne Mahn: Das war die größte Herausforderung, weil auch die deutsche Sprache so extrem geprägt ist von Stereotypen. Mir hat meine Expertise im Anti-Rassismus-Training und auch eine unfreiwillige Expertise, weil ich ja selbst Opfer vieler dieser Klischees wurde, geholfen. Und dann habe ich die erste Regel des kreativen Schreibens bedacht: Show don’t tell!
Als Lesende ist man immer mit Issa: Man sieht, was sie sieht, man riecht, was sie riecht und man denkt, was sie denkt.
Ich habe versucht, über das Innenleben von Issa einen Gegenpol zu diesen Klischees zu bilden, ohne aber auch Sachen aus Angst vor Wertung wegzulassen und trotzdem eine authentische Geschichte zu schreiben, den Lesenden aber doch den einen oder anderen Zahn zu ziehen, wenn sie davon ausgehen, dass sie wissen, was kommt.

Klingt nach einer aufregenden und schwierigen Aufgabe. In einem Zitat aus dem Buch heißt es: „Seitdem meine Eltern mich nach Deutschland gebracht haben, bin ich zwischen den Welten von Schwarz und Weiß gefangen.“ Das sagt Issa. Was bedeutet dieses Dazwischensein, welche Möglichkeiten gibt es dir, vor welche Herausforderungen stellt es dich auch? Eine große Frage...

Natürlich eine große Frage. Und doch würde ich sagen, die Frage meines Lebens, weil ich bis heute das Gefühl habe, rechtfertigen und erklären zu müssen, warum ich hier bin. Den Raum, den ich einnehme in einem Land, in dem die Norm oft noch als weiß verstanden wird, obwohl schon über 400 Jahre Menschen in diesem Land leben, in Europa leben, die so aussehen wie ich und die Sprache sprechen und die Literatur und diese Gesellschaft geprägt haben. Ich habe so oft die Frage „Wo kommst du her?“ gehört, dass ich gar nicht mehr weiß, welche Antwort die Leute überhaupt wirklich hören wollen. Welche Antwort wird sie zufriedenstellen? Mit diesem Buch habe ich versucht, eine Antwort auf diese Frage zu schreiben. 300 Seiten brauchst du, um ganz zu verstehen, woher eine Frau wie Issa kommt. Und das ist nur eine Geschichte von ganz vielen Geschichten. Ich hoffe, dass die Lesenden daran denken, wenn sie das nächste Mal eine Person aufgrund ihrer Hautfarbe fragen „Woher kommst du?“ und einen Satz mit höchstens drei Wörtern erwarten.

Issa ist eine freche, schlagfertige junge Frau, die aber doch sehr stark unter dem Einfluss ihrer Mutter und auch der Großmutter steht. Wie würdest du Issa, die Protagonistin, beschreiben?

Issa ist mir sehr sympathisch, obwohl ich persönlich sagen muss, dass sie mir oft zu naiv ist. Ich hatte beim Schreiben das Bedürfnis, sie ein bisschen zu schütteln und zu sagen „Jetzt komm, steh doch mal auf, jetzt entscheide doch und vor allem mach einfach mal!“ Wir begegnen ihr ja erst mal im Flugzeug und bekommen den Eindruck, sie wäre komplett fremdbestimmt. Nicht nur von ihrer Mutter und ihrem Vater, sondern auch von diesem Kindsvater, ihrem Freund. Über die Zeit wird sie immer entspannter und versteht, dass sie einen Eigenantrieb und eine Neugier hat und es auch gut für sie ist, dort zu sein, wo sie ist. Und gleichzeitig, auch wenn ich sie manchmal schütteln möchte, bewundere ich sie für ihre Gelassenheit, von der ich mir eine Scheibe abschneiden könnte. Sie wertet ganz oft nicht, sie lässt sich auf die Dinge ein, auch wenn sie skeptisch ist. Grundsätzlich finde ich die Art, wie sie mit dieser Multikulturalität umgeht und wie sie mit den Menschen umgeht, die sie nicht versteht, sehr schön und dafür bewundere ich sie ganz klar.

Mirrianne Mahn

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Dein Roman erstreckt sich über ein ganzes Jahrhundert. Das Buch beginnt mit dem Flug der Protagonistin in ihr Geburtsland Kamerun. Und es beginnt nochmal im Jahr 1903 mit einer Vorfahrin von Issa, die von einem deutschen Kolonisator vergewaltigt wurde und schwanger wird. In weiterer Folge geht es in deinem Roman um die Schwierigkeiten eines unehelichen Kindes, um Polygamie, um das eingeschränkte Selbstbestimmungsrecht von Frauen, um Unterdrückung und Macht. Wie hast du für dein Buch recherchiert?

Ein Shoutout geht ans Bundesarchiv Hamburg! Und dann habe ich viele Geschichten von meinen eigenen Omas und vor allem von meinem Uropa, der selbst für die Deutschen gekämpft hat. Und bei den Recherchen sind mir teilweise Parallelen aufgefallen, persönliche Anekdoten. Auf der einen Seite also mein politischer Aktivismus und meine dekoloniale Arbeit und dieses historische Wissen über die deutsche Kolonialherrschaft und dann teilweise Briefe im Bundesarchiv, Listen, Lieferberichte, Artikel von Journalisten, die damals in diese neue Welt gefahren sind. Aus all dem eine gute Geschichte zu machen und die Perspektive umzudrehen, das war super spannend. Mir war es aber wichtig, dass die historischen Daten und die historischen Ereignisse, die ich beschreibe, auch alle wirklich so waren.

Das klingt auch nach einer wahnsinnig langwierigen Arbeit. Wie lange hast du da recherchiert?

Ich muss zugeben, dass ich einfach Glück hatte und die Geschichte in meinem Kopf eigentlich schon fertig war. Und ich wusste, wo ich nachschauen muss. Das kommt einfach von meiner jahrelangen Arbeit, auch zu kolonialen Raubgütern, Provenienzforschung usw. Und deswegen habe ich vom ersten Satz bis zum fertigen Buch inklusive Lektorat ungefähr ein Jahr gebraucht.

Wow. Trotz, das muss man auch sagen, dieser harten und schweren Thematik. Es ist ja ein sehr positives Buch mit einer leichtfüßigen und schnörkellosen Sprache, es ist sehr erzählerisch und es gibt auch keine Wut.

Mir war es wichtig, eine schöne und angenehme Sprache zu finden. Und, obwohl es tiefe und auch dunkle Themen sind, eine Leichtigkeit zu finden, weil es das ist, wie ich meine eigene Persönlichkeit beschreiben würde und was mir selbst einfach beim Lesen oft fehlt. Diese Frauen, egal wie viel Leid sie erfahren, verlieren nie ihren Humor, ihre Leichtigkeit, ihren Witz, ihre Lebensfreude. So geht es mir selbst auch. Und ich glaube, dass es sehr vielen Menschen so geht. Wenn man den Menschen hinter das Lächeln gucken könnte, würde man teilweise grausame Geschichten erfahren. Aber ist das nicht das Tolle, die Resilienz eines Menschen, dass wir doch immer wieder Hoffnung und Lebensfreude haben - und besonders auch dieses Land? Kamerun und auch der Kontinent Afrika sind ein Beweis dafür, dass es diese Menschen trotz jahrhundertelanger Ausbeutung, die bis heute anhält, schaffen, eine Kultur in den Planeten hinaus zu tragen, die alle mitreißt und alle zum Feiern einlädt.

Du bist auch als Theatermacherin tätig, außerdem als Politikerin und Stadtverordnete in Frankfurt am Main. Du gibst Workshops und hältst Vorträge zu Diversität und du setzt dich in all deinen Funktionen und künstlerischen Arbeiten gegen Diskriminierung und Rassismus ein. „Issa“ ist dein Debütroman. Wieso hast du dich entschieden, dass dieser Stoff eben ein Roman werden muss und nicht ein Theaterstück?

Der Stoff musste ein Roman werden, weil ich schon oft versucht habe, diese Themen in anderthalb Stunden zu behandeln und immer das Gefühl hatte, dass die Zeit nicht reicht. Literatur ist etwas, das zuerst im Herzen ankommt, finde ich, bevor es ganz im Kopf ankommt. Und dann dachte ich okay, ich mache jetzt dieses Experiment. Was passiert, wenn niemand mich unterbricht? Keine Glocke klingelt. Papier ist geduldig und das Papier hat mir die Zeit und den Raum gegeben. Und bevor ich mich versah, war es ein ganzer Roman und ich bin sehr dankbar. Und es war das Erfüllendste von all den vielen Sachen, die du gerade aufgezählt hast, die ich mache. Ich wollte auf gar keinen Fall irgendein Buch schreiben. Ich dachte, zu den Themen, zu denen ich arbeite, wurde schon alles gesagt. Was uns fehlt, sind gute Geschichten, die auch Hoffnung machen. Und ich hoffe, das tut dieses Buch am Ende auch, dass man ein Stück weit diese Hoffnung mitbekommt.

Buchcover von "Issa"

Rowohlt Verlag

„Issa“ von Mirrianne Mahn (304 S.) ist im Rowohlt Verlag erschienen.

Du hast gesagt, ein Jahr hast du geschrieben und wir haben jetzt gerade aufgezählt, was du alles machst. Wie hast du das praktisch hinbekommen, 300 Seiten Roman zu schreiben?

Ich habe noch zwei Kinder, das darf man nicht vergessen. Ich glaube, die Geschichte hat mir geholfen. Ich hatte einen richtigen Druck und ich bin sehr, sehr schwanger gegangen mit diesem Thema. Das ist der Kern meiner Identität, dieses „Wer bin ich? Was bedeutet es, Frau auf dieser Welt zu sein? Was bedeutet es, eine schwarze Frau in dieser Welt zu sein? Was bedeutet es, eine queere Frau in dieser Welt zu sein? Was bedeutet es, Mutter und Tochter zu sein?“ Ich glaube, es gibt keine Mutter-Tochter-Beziehung auf diesem Planeten, die unkompliziert ist. Und doch sind Frauen das, was die Welt im Kern zusammenhält, was diesen Planeten dabei hält, dass er sich weiterdreht. Und oft sind es irgendwelche Entscheidungen von Männern, die dann wieder Frauen ausbaden müssen, um dem irgendwie gerecht zu werden. Frauen, die jetzt nicht irgendwelche krassen Rekorde gebrochen haben, einen Raum zu geben und ihren Beitrag zu unserer Welt, wie wir sie heute kennen, zu erzählen, das war mir ein so dringendes Bedürfnis, dass es einfach funktioniert hat. Und ja, ich habe wenig geschlafen. Ich habe viel geweint, zwischendrin auch gesagt, ich mache es jetzt nicht, ich schaffe es nicht. Und doch hat es geklappt.

Auf deiner Website steht „Mein Feminismus ist intersektional.“ Das bedeutet, es geht dir in deinem feministischen Verständnis nicht nur darum, dass jemand aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit diskriminiert wird, sondern etwa auch aufgrund der Hautfarbe oder der sexuellen Orientierung. Wo siehst du momentan die größten Herausforderungen?

Ich glaube, dass wir einer Lüge aufsitzen: dass all diese Diskriminierungsformen Menschen betreffen, die zu einer Minderheit gehören. Wir sprechen über Queerfeindlichkeit, über Behindertenfeindlichkeit, über Rassismus, Antisemitismus und natürlich Sexismus, der alleine schon die Hälfte der Bevölkerung betrifft. Ich finde, wenn wir das alles zusammennehmen und uns um alles gleichzeitig kümmern, was ja auch gleichzeitig passiert und Menschen gleichzeitig Leid bringt jeden Tag, dann werden wir verstehen, dass es sich da um eine tatsächliche Mehrheit handelt, wir eine globale Mehrheit sind. Und wenn wir uns dafür einsetzen, dass Gerechtigkeit allen und vor allem den Schwächsten zusteht, dann wird es allen gut gehen. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Und das haben all diese starken, aktivistischen Frauen, die vor mir gekommen sind, die diese großen, komplizierten Wörter, die inzwischen an den Unis gelehrt werden, noch nicht kannten, gelebt: Eine bedingungslose Solidarität und einen Liebeswillen. Egal, was mir passiert - in die Welt rauszugehen mit dem Wunsch, zu lieben und alles irgendwie zum Positiven zu wenden und Teil der Lösung und nicht des Problems zu sein.

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