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Konzertfoto von Altın Gün

Buket Akar

Gehen, wenn es am schönsten ist

Die türkisch-niederländische Psychedelic-Folk-Rock Band Altın Gün hat das Gasometer beim Konzert gestern vielleicht ein bisschen zum Schweben gebracht. Nicht umsonst und niemals vergeblich, denn es ist das zweitletzte Konzert, bevor Leadsängerin Merve Daşdemir die Band verlässt.

Von Aischa Sane

Diese Timeline, in der wir existieren, hat etwas komplett Surreales an sich. Irgendwie geht alles den Bach runter und die Tage gehen ineinander über. Aber gleichzeitig finden wir doch immer den Weg zu den Dingen, die das Menschsein so besonders erträglich machen.

In Worte fassen lässt sich diese Endzeitstimmung, die ja eigentlich keine ist, nicht so leicht. Aber es gibt den passenden Soundtrack dazu: über alle Genres hinweg legen Künstler*innen wunderbare Experimente mit psychedelischen Klängen hin. Vielleicht, weil sowieso alles schon so absurd ist. Besagte Töne sind in den letzten Jahrzehnten ohnehin nie weg gewesen, aber aktuell lässt sich vielleicht schon fast von einem Revival sprechen.

Ich kann nicht die einzige sein, die auch sonst Parallelen zu den 60ern und 70ern sieht: Energiekrise, Feminismus, Krieg und jede Menge weitere Baustellen - und dazu eben diese Musik. Gesellschaftlicher Wandel ist etwas durch und durch Zyklisches.

Letztendlich ist der Abgrund doch noch nicht erreicht. Gegenwärtig sammeln sich unter dem Regenschirm der Psychedelia und Neo-Psychedelia also großartige Acts wie Tame Impala, Khruangbin, Men I Trust oder auch Steve Lacy. Altın Gün befinden sich also in bester Gesellschaft.

Das innere Kind mag es…psychedelisch?

Besonders schön ist es, wenn bei einem psychedelischen Trip die Farben verschwimmen und verschmelzen. Dann kommen wir zum Beispiel in den Genuss eines unerwarteten Psychedelic Rock/RnB-Albums von Lil Yachty. Schon geschehen und dankend empfangen. A$AP Rockys „Sundress“ wurde mit einem genialen Tame-Impala-Sample zu einem instant classic. Jedenfalls komme ich auf Road Trips schwer ohne aus.

Wie dem auch sei: in Amsterdam fanden sich Altın Gün 2016 auf Initiative des Bassisten Jasper Verhulst zusammen. Ihm hatte es der türkische „Anadolu-Rock“ der 70er Jahre besonders angetan. Nun galt es also, diese Musik mit Menschen zu entdecken, die sie aus ihrer Kindheit kennen. Und was sich daraus Schönes ergeben hat! Gut für alle also, wenn talentierte Menschen gemeinsam zu ihrem inneren Kind finden.

Das mit dem inneren Kind lässt sich wunderbar transportieren, wie man im Gasometer erfahren durfte. Wann ich das letzte Mal gemeinsam mit so vielen anderen Menschen derart enthusiastisch herumgesprungen bin, weiß ich gar nicht mehr. Es fiel sogar ein AirPod aus der Case, die an meiner Tasche baumelte - wunderbar (habe ihn ja sowieso noch rechtzeitig aufsammeln können).

Konzertfoto von Altın Gün

Buket Akar

Ein letzter Tanz

Auf gar keinen Fall ging es bei diesem Konzert nur um die scheidende Leadsängerin. Dennoch: wie Merve Daşdemir in ihrem weißen, fließenden Kleid und mit ihrem sternförmigen Tamburin über die Bühne huschte, dieses Bild soll niemandem vorenthalten werden. Kitschig, aber wahr: Feen-Vergleiche lagen dem einen oder anderen Fan nicht fern. Ich musste eher an einen Geist denken. Aber nicht im Sinne von dem traurigen Echo, das ein Abschied manchmal hinterlässt - nein, Merve Daşdemir verkörperte eine Präsenz, die nicht zu übersehen oder gar zu vergessen ist. Sie war hier und da, wie an mehreren Orten gleichzeitig und immer genau zur richtigen Zeit am Mikrofon.

Die Band unterhielt sich nicht sonderlich viel miteinander oder mit dem Publikum. Aber das war auch nicht notwendig: die Eindringlichkeit und die vollumfängliche Hingabe, mit der Altın Gün diese Show spielten, spricht für sich.

Wie kann es bei Altın Gün anders sein: die bağlama und der Gesang von Erdinç Ecevit Yıldız und Merve Daşdemir gaben den Herzschlag der Performance vor. Für eine ihrer letzten Darbietungen in dieser Aufstellung spielten sie glücklicherweise nicht nur Musik von ihrem letzten Album Aşk, auch wenn das ein ganz besonderes Werk ist. Davon haben sie so einige, wie diese Reise durch ihre Diskografie einmal mehr beweist. Dort geht es mit mehr Funk, hier mit mehr Soul zu. Immer wieder sind Altın Gün und ihre Crowd für ein aufschwingendes Bass- oder Gitarrensolo zu haben - nur falls wer vergessen haben sollte, dass es hier im Kern um Anadolu-Rock geht.

Richtung Zukunft durch die Nacht

Egal ob unter Einfluss psychedelischer Musik oder psychedelischer Drogen: die Zukunft lässt sich leider wirklich nicht vorhersagen. Trotzdem: wahrscheinlich müssen wir uns um die musikalische Zukunft von Altın Gün nicht allzu große Sorgen machen. Oder gar über die Zukunft psychedelischer Experimente ganz allgemein, falls man sich solche Prognosen anmaßen darf.

Merve Daşdemir bereicherte ihre vorletzte Altın-Gün-Zugabe derweil mit folgendem Appell: „Es ist meine letzte Show in Wien, bitte schenkt mir noch diesen einen Tanz. Wir sehen uns in einem anderen Leben wieder.“ Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihr diesen Wunsch auszuschlagen. Also wurden die Arme erneut hochgeworfen.

Nach einem letzten, richtig guten Tanz sollten wir es Merve Daşdemir vermutlich häufiger gleich tun: gehen, wenn es am schönsten ist. Und dabei einen beeindruckenden (bei Gelegenheit: psychedelischen) Abgang hinlegen, wann immer sich das einrichten lässt.

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