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Beklemmend, spannend, komisch: „Wir sind das Licht“ von Gerda Blees

Ein Mensch verhungert, vier andere sehen dabei zu: Mit ihrem ersten Roman „Wir sind das Licht“ erzählt die niederländische Autorin Gerda Blees von einer Kommune, die aufgehört hat, Nahrung zu sich zu nehmen. Ein Pageturner, der nicht nur spannend, sondern auch höchst aktuell und hervorragend erzählt ist.

Von Lisa Schneider

„Eine Wohnung, drei Frauen, ein Mann. Eine der Frauen ist tot.“ Gute Bücher beginnen nicht selten mit einem guten Buchklappentext, zumindest aber einem spannenden.

Ungeachtet der ersten Ahnung nach dem Lesen dieser Zeile hat die niederländische Autorin Gerda Blees mit „Wir sind das Licht“ keinen klassischen Kriminalroman geschrieben. Die Frage, ob es überhaupt ein Verbrechen gegeben hat, soll bis zum Ende des Buchs offen bleiben.

Buchcover Gerda Blees "Wir sind das Licht"

Zsolnay

„Wir sind das Licht“ von Gerda Blees erscheint in der deutschen Übersetzung von Lisa Mensing bei Zsolnay.

„Reiner werden“

Die tote Frau heißt Elisabeth. Sie stirbt in der Wohnung, die sie sich mit ihrer Schwester Melodie und zwei weiteren Personen, Muriel und Petrus, teilt. Der Notarzt stellt fest, dass Elisabeth - vor den Augen ihrer Mitbewohner*innen - verhungert ist. Melodie, Muriel und Petrus werden zur polizeilichen Befragung festgenommen, eine Mittäterschaft wird zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeschlossen.

Ihre Wohngemeinschaft haben die vier Protagonist*innen „Klang und Liebe“ genannt, es ist eine Gruppe von Menschen, die auf verschiedene Weise den Halt im Leben verloren haben. Folgt man der Beschreibung der Nachbarn, darf man sich das Ganze optisch ungefähr so vorstellen:

„Manchmal machten sie einfach den Eindruck, als kämen sie von einem anderen Planeten. Auch, wie sie aussahen. Die grellbunte Kleidung, die um die dürren Körper flatterte. Und obendrauf die grauen Grabgesichter. Wirklich absonderlich. Was natürlich nicht schlimm ist, jeder nach seinem Gusto, das ist ja so.“

Unter der engagierten wie manipulierenden Leitung von Melodie beginnen die vier, neben Meditationsübungen und gemeinsamem Musizieren ihre Essgewohnheiten immer stärker einzuschränken, bis sie - inspiriert auch von der obskuren Leitfigur einer amerikanischen Lichtnahrungs-Bewegung - überhaupt nichts mehr zu sich zu nehmen. Sie tun das, wie sie beim polizeilichen Verhör angeben, „um zu lernen, besser in Kontakt zu treten“, oder „um zu lernen, mit meinem Widerstand umzugehen“.

Und Socken haben doch ihre eigenen Gedanken

Unabhängig vom durchgängigen Spannungsbogen ist es vor allem die Erzählweise, die Gerda Blees’ Roman so anders, frisch, lesenswert macht. Sie erzählt die Geschichte aus 25 verschiedenen Perspektiven, wovon die meisten keine menschlichen sind. Wollsocken kommen zu Wort, zwei Zigaretten, die Zweifel von Muriel.

Oder etwa Orangenduft: Petrus wird von einem Polizisten befragt, der täglich nach dem Mittagessen eine Orange isst und dementsprechend riecht, als er den Raum betritt. Bei Petrus kommen in dem Moment Erinnerungen an Mobbing zu Schulzeiten und verschimmeltes Obst am Boden seines Rucksacks hoch. Die sich von da an entwickelnden Aggressionen, die er später kaum zu zügeln weiß, haben ihn schließlich zur Wohngemeinschaft „Klang und Liebe“ geführt. Die Auswahl der Perspektiven ist in dem Fall also nicht nur erheiternd (auch ein Entsafter kommt zu Wort!), sie umgeht auch auf sehr charmante Weise den öden, allwissenden Erzähler.

Gerda Blees wurde für ihren Debütroman unter anderem mit dem Nederlandse Boekhandelsprijs 2020 und dem Literaturpreis der Europäischen Union 2021 ausgezeichnet. 1985 geboren, hat sie Fine Arts an der Gerrit Rietveld Academie in Amsterdam studiert und an mehreren Universitäten unterrichtet. Bisher hat sie vorwiegend Lyrik veröffentlicht.

Aus der Sicht von Gegenständen zu erzählen, ist sonst auch eine Sache, die Clemens Setz gern macht. Die dem Inhalt entgegengesetzte Situationskomik, die ihm damit oft gelingt, gelingt auch Gerda Blees. Wenn etwa Melodies altes Cello, das sie beiseite gelegt hat, seinen Gefühlen freien Lauf lässt („als wir das hörten, riss uns spontan eine Saite“), oder wenn die Socken resigniert festhalten: „Wir sind nur einfache Socken, und der Tod ist nicht gerade unser Spezialgebiet.“

Metaebene und Zeitgeist

Den Roman „Wir sind Licht“ kann man auf viele Arten lesen, als Nicht-ganz-aber-doch-ein-bisschen-Krimi, als gesellschaftliche Studie, als sensationellen Pageturner oder als Roman über das Romanschreiben selbst (spätestens dann, wenn die Erzählung zum Erzähler eines Kapitels wird - „Wir werden uns nicht großartig anders entwickeln, als Sie es schon vermutet haben“).

In jedem Fall kann man ihn zeitgeistig geprägt lesen: 2017 ist in einer Kommune in Utrecht, die der im Roman nicht unähnlich ist, eine Frau verhungert. Gerda Blees’ Roman sowie seine Charaktere sind fiktiv, aber von diesen realen Vorfällen inspiriert worden. Das alles ist noch vor Pandemiezeiten passiert, aber gerade weil „Wir sind Licht“ ein Roman über Desinformation, Isolation und Radikalisierung ist und weil er die große Frage stellt, ob wir einander jemals, mit all unseren Überzeugungen, vollständig werden verstehen können, könnte er aktueller nicht sein.

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