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Jehnny Beth beim Donaufestival 2022

David Višnjić

donaufestival

Wie Jehnny Beth, Lua Preta & Dis Fig das Kremser Publikum aufmischen

Zuerst die Zerstreuung, dann die Eskalation: Das Donaufestival in Krems hatte am Samstag noch einige Trümpfe im Ärmel - mit Jehnny Beth, Lua Preta, Dis Fig und Moshpit inklusive.

Von Michaela Pichler

Wann gab es zum letzten Mal einen Moshpit am Donaufestival? Habe nur ich es nicht verstanden? Und wo kann ich am besten meine Jacke ablegen, wenn es beim Tanzen dann eben doch zu heiß wird? Fragen über Fragen, die sich am fünften Festivaltag in Krems aufdrängen.

Sich ins Donaufestival stürzen heißt auch immer, Irritationen und Erschütterungen zulassen. Noch lange bevor wir am Samstagabend mit Zählkarten bestückt in die Halle 1 trudeln, eilt der Ruf dem auf uns wartenden Performancekollektiv schon voraus. Zwischen den Konzerten wurde am Vorabenden schon viel geflüstert - Stichworte wie „verstörend“ oder „nervenaufreibend“ sind des Öfteren gefallen. Das Kollektiv um die südafrikanische Choreografin und Performerin Nomcebisi Moyikwa bringt fürs Donaufestivalpublikum in einer österreichischen Uraufführung das Stück „Somewhere Me“ auf die Bühne. Das geschieht nicht nur auf Englisch, sondern ebenso in den Bantu-Sprachen isiXhosa und isiZulu. Die ständige Bewegung als Beweis der eigenen Existenz - so könnte eine der vielen Interpretationen des Gesehenen und Gehörten lauten. Fast eine Stunde lang zucken, tänzeln und rascheln die Performer*innen durch den Raum. Links in der Ecke steht ein Pappesel, manchmal verschwinden einzelne Gesichter abwechselnd hinter einer Dinosauriermaske. Die Gesichter im Publikum bleiben fragend zurück.

Dis Fig beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Dis Fig

„Donaufestival, you are on fire!“

Wer am Vortag auch schon in die Kremser Parallelwelt abgetaucht ist, die oder der weiß, was in der Wundertüte namens Donaufestival noch alles drin stecken kann. Die Produzentin und DJ Dis Fig zum Beispiel. Dieses Jahr eine umtriebige Wiederkehrende - am Freitag hat sie bereits gemeinsam mit The Bug tiefgelegten Dub-Noir zelebriert. Für ihr Solo-Set hat Felicia Chen alias Dis Fig noch einiges an Energie aufgespart, mit ihrer unverkennbaren Dringlichkeit in der Stimme zieht sie die Besucher*innen im Stadtsaal in einen Sog.

Vom dystopischen Clubsound der Dis Fig geht es weiter in andere Gefilde. Das Duo Lua Preta frönt zwar auch der Clubkultur, von Dystopien ist in ihren Sets allerdings nichts zu hören. Ms. Gia und DJ Mentalcut stecken hinter dem Künstlernamen, der aus dem Portugiesischen übersetzt „schwarzer Mond“ bedeutet. Die Sängerin und Rapperin ist in Polen geboren und zum Teil in Angola aufgewachsen, gemeinsam mit ihrem polnischen DJ-Kollegen hat sie 2020 das Lua-Preta-Debüt mit dem passenden Titel „Diaspora“ veröffentlicht.

Lua Preta beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Lua Preta

Es ist wohl eines der besten Zeichen, wenn sich vor dem Bühnenrand die Taschen und längst überflüssigen Kleidungsschichten nur so stapeln. Die Luftfeuchtigkeit in der Messehalle steigt rapide an, als Lua Preta richtig aufdrehen. Wie gut ein Flötensample klingen kann, wissen wir allerspätestens seit Lizzo. Bei Lua Preta funktionieren die geflöteten Melodien in einem Mix aus Kuduro-Rhythmen, upbeatigen Synthie-Flächen und portugiesischen Lyrics. Alles ist auf den Dancefloor zugeschnitten und aufpoliert. Irgendwo sind da sogar Trillerpfeifen zu hören. In der zweiten Reihe sieht man dann auch die vor kurzem noch selbst auf der Bühne performende Dis Fig zu den Beats tanzen. Jetzt kann es wohl auch nicht mehr besser werden. Oder?

Jehnny Beth beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Jehnny Beth

„More Adrenaline!“

„Ich werde jetzt etwas sagen, was manche Menschen vielleicht schockieren wird, aber: Kunst ist Diebstahl. Die ganze Grundidee der Kunst basiert darauf, dass jemand etwas erschaffen hat, was wiederum jemand anderen inspiriert. Das ist wie ein Schneeball, der immer mehr ins Rollen kommt und immer größer wird.“ Es kommt eben immer auf die Perspektive an, meint Jehnny Beth im FM4 Interview, als sie nach dem diesjährigen Donaufestival-Leitfaden „Stealing the Stolen“ gefragt wird. Bekannt wurde die Musikerin, Komponistin, Schriftstellerin und Schauspielerin als Sängerin und Strahlfigur der großartigen Savages. Mit der Post-Punk-Formation hat Beth schon die ganze Welt bereist (außer Österreich, zumindest kann sie sich nicht daran erinnern) - für ihre Krems-Premiere ist sie als Solokünstlerin angereist.

Jehnny Beth beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Jehnny Beth

Vom Stehlen in der Kunst und der kulturellen „Appropriation“ geht es im Interview weiter zu „Appreciation“. Besonders aktuelle Superstars der Popwelt haben es Jehnny Beth zur Zeit angetan, wenn es um Inspiration und Bewunderung geht. Im Interview nennt sie Rosalía und Arca im selben Atemzug als wegweisende Künstlerinnen. Letztere stand genau vor einer Woche im selben Stadtsaal auf der Bühne und hat das hiesige Piano bespielt. Wie man es übrigens auch von Jehnny Beth erwarten könnte. 2020 ist ihr erstes Soloalbum entstanden, mit dem fast schon existentialistischen Titel „To Love Is To Live“ (Beth lacht im Interview dazu: „Was soll ich sagen, ich bin Französin!“). Darauf zu finden ist ein Wechselbad zwischen Electro, Industrial, Alternative, Avant-Pop und ganz viel Klavier. Für ihren Auftritt in Krems lässt die französische Künstlerin allerdings die Tasten ruhen - stattdessen gibt es pure Entfesselung.

„Als Künstlerin musst du Regeln brechen. Und wenn es eine Regel gibt, die besagt, du darfst nicht kopieren - dann kopiere!“ Was Jehnny Beth zuvor noch im Interview predigt, bringt sie Samstagabend auf die Bühne und covert den Nine-Inch-Nails-Klassiker „Closer“. Das liegt deshalb so nahe, da Beth für ihr Solodebüt mit NIN-Produzenten und Musiker Atticus Ross zusammengearbeitet hat. Wäre die Pandemie nicht gewesen, hätte die Savages-Sängerin mit Nine Inch Nails eigentlich die Tourbühnen dieser Welt bespielen sollen.

Jehnny Beth beim Donaufestival 2022

David Višnjić

Aber nun kommt nach zwei Jahren wieder ein Funken Musiker*innen-Alltag zurück, heuer hat Beth bereits in Mexico City das Publikum bespaßt, in ein paar Wochen wird sie auch noch am Primavera Festival in Barcelona zu sehen sein. Das ist aber alles noch Zukunftsmusik, im Hier und Jetzt ist der Kremser Stadtsaal ihr Metier, in dem sie sich sichtlich wohl fühlt. Ganz egal, ob mit Savages oder eben als Solokünstlerin: „Bühne ist Bühne. Die Bühne ist der Ort, an dem ich mich immer frei fühle. Es ist der Ort, den ich am besten kenne, wo ich mich am besten kenne.“

„We are free“, hämmert uns Jehnny Beth als ständiges Mantra mit viel Bass in die Köpfe, wir möchten es fast schon glauben. In den ersten Reihen versammeln sich deutlich mehr männliche Fans als noch bei Lua Pretas Party-Set, bei dem das tanzwütige Publikum überdurchschnittlich weiblich war. Währenddessen schreit sich Jehnny Beth bei ihrer Toxische-Männlichkeits-Hymne „I’m The Man“ in Fahrt. Und dann tut sich eben auf einmal ein waschechter Moshpit im Publikumsgraben auf, am Donaufestival dann wohl doch eher eine Seltenheit. Jehnny Beth bedankt sich mit einer Runde Stagediving. „Donaufestival, that’s so sweet! I had such a great time!“ Wir auch, Jehnny, wir auch. Danke dafür.

Die Highlights der beiden Festival-Wochenenden gibt es am Mittwoch, 11. Mai, in der FM4 Homebase zu hören: Mit einer Spezialstunde um 21 Uhr, die das Donaufestival 2022 Revue passieren lässt.

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