FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Haruki Murakami

Noriko Hayashi

Haruki Murakami ist 75 und hat einen neuen Roman

Haruki Murakami, der Großmeister der japanischen Literatur, ist 75. Einsame Protagonisten, die von der realen in eine mystische und magische Welt wechseln, machen sein Werk aus. So ist es auch in seinem neuen Roman „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“.

Von Zita Bereuter

Studium beenden. Arbeit finden. Heiraten. Die damals übliche japanische Tradition dreht Haruki Murakami in den 1970er Jahren um. Er heiratet, arbeitet und beendet dann irgendwie das Studium. Das erzählt er im Vorwort zu seinem Debütroman „Wenn der Wind singt“ (auf Deutsch 2015 erschienen).

Mit seiner Frau eröffnet er 1974 ein eigenes Jazzlokal, in dem er seine Lieblingsschallplatten auflegen kann. Sein Lebenstraum. Der kostet, und das studierende Paar muss viel arbeiten und Geld ausleihen. An einem Monatsende können sie die benötigte Bankrate einfach nicht aufbringen. Niedergeschlagen spazieren sie durch die Straßen – die Köpfe gesenkt. Und prompt liegt Geld auf der Straße! Exakt der Betrag, der ihnen für die Bank noch fehlt. „Zufall oder glückliche Fügung?“ fragt sich Murakami. „Mir sind schon öfter in entscheidenden Augenblicken meines Lebens solch unerklärliche Dinge passiert.“

Später wird er immer wieder über Mystisches, Magisches und Fantastisches, über Geheimnisse, Rätsel und Träume schreiben. Aber noch schreibt er nicht. Noch betreibt er das Jazzlokal und arbeitet. Wenn er an seine 20er zurückdenkt, erinnert er sich nur daran, dass er immerzu gearbeitet hat. Und in jeder freien Minute gelesen.

„Lesen und Musikhören waren mein größtes Vergnügen.“

Mit Ende 20 läuft das Lokal dann und 1978 besucht er ein Baseballspiel. Während eines Wurfs - er hört den Ball durch die Luft zischen - trifft ihn die Erkenntnis, dass er einen Roman schreiben muss. „Eine Offenbarung.“ Noch auf dem Heimweg kauft er sich einen Füller und Manuskriptpapier und beginnt zu schreiben. Spätabends nach der Arbeit und bis zum Morgengrauen formuliert er am Küchentisch. Nach einem halben Jahr ist sein erster Roman beendet und in Anlehnung an das Baseballspiel trägt er den Titel „Wenn der Wind singt“.

Seine Kritik ist ehrlich: „Leider war ich nicht sonderlich beeindruckt von meinem Werk.“ Er gibt dennoch nicht auf und schreibt weiter – allerdings ohne die Füllfeder, die hat in ihm „eine literarische Attitüde“ hervorgerufen. Er schreibt mit seiner Schreibmaschine mit lateinischer Tastatur. Mit der kann er nicht in seiner Muttersprache Japanisch, sondern nur Englisch schreiben. Damit macht er sich an seinen zweiten Roman. Sein Englisch ist nur so gut, dass er mit einer beschränkten Anzahl an Vokabeln kurze Sätze schreiben kann. Einfach, kurz und knapp. „Es ist nicht nötig, komplizierte Sätze aneinander zu reihen und es bedarf erst recht keiner blumigen Ausdrucksweise, um andere Menschen zu beeindrucken.“ Danach übersetzte er seine englischen Texte ins Japanische. Und findet so seinen schnörkellosen Stil.

Als er 30 ist, bekommt er einen Anruf von einer Literaturzeitung, er habe mit seinem Roman einen Wettbewerb gewonnen. Murakami kann sich kaum mehr daran erinnern, dass er das Manuskript vor einem Jahr eingeschickt hat – er hatte es nicht mal kopiert. Nach dem Anruf geht er mit seiner Frau spazieren und findet eine verletzte Brieftaube. Er bringt sie zur Polizei und spürt auf dem Weg dahin die Körperwärme des zitternden Vogels. Da realisiert er, dass er den Preis gewonnen hat – und er will erfolgreicher Schriftsteller werden. Seine ersten beiden Werke nennt er nach dem Entstehungsort „Küchentischromane“ – seinen ersten eigentlichen Roman sieht er erst in seinem eigentlich dritten Roman - auf Deutsch „Wilde Schafsjagd“.

Es folgen Werke wie "Tanz mit dem Schafsmann“, „Mister Aufziehvogel“ oder „Die Ermordung des Commendatore“, die Haruki Murakami zu dem wohl erfolgreichsten und bekanntesten modernen japanischen Autor gemacht haben.

Murakami erzählt meist von Leuten, die allein oder einsam sind, nachdem eine geliebte Person gestorben oder wortlos gegangen ist. Häufig wird lebenslang nach einer verloren oder unerreichbaren Liebe gesucht. Das trifft auch auf seinen jüngsten Roman zu, der an seinem 75. Geburtstag am 12. Jänner 2024, auf Deutsch erscheint: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“.

Haruki Murakami

Noriko Hayashi

„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“

Murakamis jüngster Roman basiert auf der Kurzgeschichte „The City, and Its Uncertain Walls“ von 1980 – seinem zweiten Jahr als Autor. Die Geschichte beinhaltete bereits einen Schatten und eine Mauer – aber er wusste nicht, wie er das weiter ausführen hätte können. 40 Jahre hat er immer wieder an die Geschichte gedacht. Dann, als er 2020 selbst im Lockdown auf eine gewisse Art eingemauert war, nimmt er sich dem Thema nochmal an und schreibt in zwei Jahren den Roman mit zwei Handlungssträngen. Das erklärt er im Nachwort, das besser ein Vorwort gewesen wäre. Vorab hätte man einfacher an dem „jungen“ Murakami anschließen und leichter über einiges hinwegschauen können. Denn ja, man kann in diesem dreigeteilten Werk einmal mehr in die fantastische Welt des Haruki Murakami eintauchen, aber man braucht mitunter einen langen Atem.

Murakami

Dumont

Haruki Murakami: „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ ist in einer Übersetzung aus dem Japanischen von Ursula Gräfe bei DuMont erschienen.

„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ ist eine Erfindung des 17-jährigen Erzählers und seiner 16-jährigen Freundin. Die beiden haben sich bei der Preisverleihung eines Schreibwettbewerbs kennengelernt und verlieben sich. Bis auf heimliche Küsse passiert da körperlich nichts, vielmehr spielt sich ihre Beziehung im Gedankenaustausch - auch schriftlich - ab. Sie schwimmen auf einer Wellenlänge und phantasieren von einer ummauerten Stadt, in der das wahre Ich des Mädchens lebt. In der Stadt gibt es neben einer mysteriösen Bibliothek auch Einhörner (ja, genau). Das Wichtigste aber - in der Stadt hat man keinen Schatten, dieser lebt in der realen Welt. Oder ist es umgekehrt?

Das Mädchen verschwindet irgendwann unter mysteriösen Umständen und der Erzähler - Vorsicht, Spoiler! - leitet eine Bibliothek in einer Kleinstadt in den Bergen in der Provinz Fukushima. Das Mädchen und folglich auch die ummauerte Stadt beschäftigen ihn selbst dort noch.

Und auch soviel darf verraten werden: Man kann auf die andere Seite der Mauer, aber man braucht Mut, Entschlossenheit und Vertrauen. Schon in früheren Werken haben die Protagonisten Mauern durchbrochen, haben in mehreren Welten oder Brunnen gelebt. Und auch einige andere typische „Murakami-Motive“ findet man in „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“.

Typisch Murakami!

  • Jazz und Musik allgemein – häufig läuft irgendwo im Hintergrund ein Jazzstück, das aber genau bestimmt wird – mit Komponisten, Solisten etc. gleiches gilt für Stücke aus der Popmusik oder klassischen Musik. „Und wie immer lief leise alte Jazzmusik. Paul Desmond blies sein Altsaxofon.“
  • Regen - Nebel, Regen, Schneefall ist meist das passende Wetter. „Immer wenn ich sehe, wie Regen aufs Meer fällt, überkommt mich eine Art Rührung.“
  • Weiden - die Stimmung der Protagonisten spiegelt sich in der Natur und umgekehrt. Ganz vorne mit dabei - Weiden. „Leise raunend wiegen sich die Weidenruten im Wind.“
  • Einfaches Essen – die Protagonisten essen nicht irgendwas, sondern meist ist es eine leichte oder einfache „Kleinigkeit“. Manchmal beschreibt er die auch. „Ich könnte uns schnell eine Kleinigkeit kochen, wenn das in Ordnung ist. (...) Vielleicht einen Krabbensalat mit Kräutern oder Spaghetti mit Tintenfisch und Champignons?“ (Kleinigkeit ist ein dehnbarer Begriff)
  • Kleidung – über seine T-Shirt-Sammlung hat Murakami ein eigenes Buch geschrieben. Auch in seinen Romanen erwähnt er gerne detailliert die Kleidung der Protagonisten – mit einer Vorliebe für Kaschmir, Seide und Tweed. „Über den dicken Pullover zog ich meinen Dufflecoat, band mir einen Kaschmirschal um, setzte meine Wollmütze auf und streifte gefütterte Handschuhe über.“
  • Make-up - Gibt es auch ungeschminkte Frauen in Murakamis Welt? Aus welchen Gründen auch immer erwähnt er das Make-up oder die Farbe des Lippenstiftes auffallend häufig. „Ihr Make-up war stets dezent und unaufdringlich, nur ihre Augenbrauen zog sie dick und dunkel nach, wie um ihren unbeugsamen Willen zu unterstreichen.“
  • Brüste – Bei der Beobachtung von Frauen glaubt Murakami wohl, dass es für die Lesenden wichtig ist, die Größe der Brüste der Protagonistinnen zu kennen. Oder er lässt auch gern Frauen über ihre Brustgröße nachdenken. „Die Brüste sind zu groß. Eigentlich wünsche ich mir schon länger größere Brüste, aber als ich nun tatsächlich welche habe, fühlt es sich unnatürlich und unangenehm an.“ (Männer denken bei Murakami übrigens selten über ihre Geschlechtsmerkmale nach.)
  • Schwimmen – die Protagonisten schwimmen gern und suchen in allen möglichen Städten Schwimmbäder auf. „Zurückgezogen in meiner Wohnung, lese ich Unmengen von Büchern, vertreibe mir die Zeit mit Doppelvorstellungen in Programmkinos oder schwimme lange Bahnen im städtischen Schwimmbad.“ (Murakami selbst ist ein begeisterter Läufer, der täglich in der Früh rennt und bereits um die 40 Marathons bestritten hat.)
  • Allein sein - dass einsam und allein sein nicht ident ist, weiß Murakami zu gut. Seine Protagonist:innen finden sich damit ab. „Dann lieber allein bleiben und ein einsames, aber ruhiges Leben führen.“
  • Lesen – die Protagonisten halten sich gern in Bibliotheken oder Buchhandlungen auf und greifen regelmäßig zu einem guten Buch. „Ich hatte schon als Kind sehr gern gelesen und nahm, wann immer ich Zeit hatte, ein Buch zur Hand.“

Murakami schafft also auch in "Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ die für ihn typischen Stimmungen und das Wechselspiel zwischen realer Welt und magischer - mit sprechenden Schatten. Das verstehen nach dem Dialog der Protagonisten zu García Márquez dann wirklich alle.

„In seinen Geschichten sind das Wirkliche und das Unwirkliche, die Lebenden und die Toten eins, alles vermischt sich“, sagte sie. „Als wären es alltägliche und selbstverständliche Begebenheiten."
"Das wird oft als magischer Realismus bezeichnet“, sagte ich.
„Ja, stimmt. Seine Geschichten mögen nach den Maßstäben der Kritik magischer Realismus sein, aber für García Márquez selbst waren sie ganz gewöhnlicher Realismus. In der Welt, in der er lebte, vermischten sich das Reale und das Irreale völlig selbstverständlich, und er schilderte die Dinge so, wie er sie sah.“

García Márquez wurde 1983 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Haruki Murakami ist seit Jahren auf der Liste der Kandidat:innen. Vielleicht hat sein Schatten ja längst den Preis gewonnen.

mehr Buch:

Aktuell: