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Das war der Protestsongcontest 2024: 20 Jahre, 2 Sieger-Songs!

90 Jahre Bürgerkrieg, 20 Jahre Lieder fürs Dagegen - da zeigt der Protestsongcontest, was er kann. Die Highlights, die Lowlights, die Überraschungen!

Von Michael Fiedler

Auch 2024 beginnt der Protestsongcontest wie gewohnt mit dem Wiener Arbeiter:innen-Chor, der wie gewohnt und gewohnt großartig „Die Arbeiter von Wien“ singt. Dann kommt wie gewohnt Michael Ostrowski auf die Bühne, der aber, ganz ungewohnt, die Band Kautz ansagt. Das braucht eine Erklärung, denn Kautz haben an sich mit dem Protestsongcontest gar nichts zu tun. Aber der Sänger von Kautz, Georg Freizeit, hat 2004 den allerersten PSC gewonnen, mit der Band Die Rosaroten. Heuer spielt er zwei neue Songs und das damalige Siegerlied „Die Weisheit mit dem Löffel“.

Protestsongcontest 2024

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Dann erst folgen Ostrowskis Einleitungsworte, die erste Aschermittwochsrede des Landes. Der Schauspieler, Autor und Conférencier trägt heute die Opernballrobe von Mirjam Weichselbraun - ein Traum in weißem Tüll und vornehmlich blauen Pailletten - und lässt kein gutes Wort an Österreichs Parteien. Bundeskanzler Nehammer wünscht er sich im Tausch für Giorgia Meloni nach Italien. Aber dafür fehlen ihm sogar im Saal die Mehrheitsverhältnisse.

Die Jury besteht heuer aus der Musikerin und Protestsongcontest-Gewinnerin 2019, Sigrid Horn, die vergangenes Jahr gleich zwei Alben mit verschiedenen Formationen veröffentlicht hat; dem Comedian und DJ Lionel Koller alias Wurstaufschnitt, dessen erstes Stand-Up-Programm den passenden Titel Liebes Tagebuch, ich werde Popstar trägt; der Vizechefin von WWF Österreich, Hanna Simons, als Vertreterin von Music Declares Emergency; Herwig Zamernik aka Fuzzman; Alica Ouschan aus der FM4 Musikredaktion und dem Gewinner des ersten Protestsongcontests, Georg Freizeit.

Der Videostream vom Protestsongcontest 2024

Dann gehts rein in die Finalperformances:

Lisa Jäger, „Voll Okay“

Lisa Jäger spricht sehr leise in ihr Mikrophon, ihr Lied singt sie aber in angemessener Lautstärke. Erst im Interview danach erfahren wir, dass es in dem Lied um Adultismus geht, also die Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen. Dass es so an affirmative Songs für Kinder erinnert, macht die Sache umso stimmiger. Dafür bekommt sie auch verhaltenes Lob, bis Alica Ouschan aus der FM4 Musikredaktion das Lied „ein bissi beige“ nennt. Lionel Koller verteidigt es aber gekonnt, er hat das Lied eher aus der Perspektive eines erwachsenen Mannes gehört: „Es gibt ja viele erwachsene Männer, die einfach gekränkte Kinder sind.“

Protestsongcontest 2024

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Low Life Rich Kids, „Anti-Woke-Generation“

Der Auftritt von LLRK kommt beim Publikum super an, aber jetzt gibt es richtige Verwerfungen in der Jury. Denn obwohl eigentlich alle Fans des Lieds sind, entspinnt sich ein Streit über die Authentizität: Alica Ouschan kritisiert „dass sich ein Millennial (nämlich Songschreiber Bernhard Eder, Anm.) zwei junge Frauen aus der Gen Z (die Sängerinnen Mara Romei & Coco Brell, Anm.) holt, um sie sagen zu lassen, was er sich denkt.“ „Vielleicht haben sich die zwei jungen Frauen den alten Mann geholt“, gibt Herwig Zamernik zu bedenken. Und Michi Ostrowski ist entsetzt: „Das nennst du einen alten Mann?!“ Hanna Simons rettet die Debatte mit der Anmerkung, dass es das einzige Lied des Abends ist, in dem es klar gegen die Klimakatastrophe geht. Und sie vergibt ein Plus, weil das Wort Eutrophierung vorkommt. Kurze Stille im Saal, während alle Eutrophierung googeln.

Protestsongcontest 2024

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Anja Thaler, „Später ist zu spät“

„Das ist ein Protestsongcontest und kein Gesangswettbewerb.“ Alica Ouschan ist nicht hier, um Freundschaften zu schließen. Aber auch Sigi Horn und Hanna Simons fehlt da noch der letzte Dreh, noch etwas klarer in Richtung Klimakatastrophe. Georg Freizeit sagt, er wäre gedanklich abgedriftet, weil er mal ein Lied darüber geschrieben hat, dass es nie zu spät ist. Bevor es aber zu philosophisch wird, holt uns Hanna Simons zurück in die mit harten Fakten gepflasterte Realität. Sie weiß, dass es beim Klima irgendwann sehr wohl zu spät sein kann. Sie ist sich aber am Ende des Liedes nicht sicher, wofür es eigentlich im Text zu spät ist. „Vielleicht ist ja die Live-Übertragung von ORF 3 gemeint“, mutmaßt Michi Ostrowski. ORF 3 überträgt den PSC an diesem Abend nämlich zeitversetzt. Anja Thaler wird zur Prophetin dieses Abends!

Protestsongcontest 2024

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eff eff, „Alles Da“

„Folgts uns ned auf Instagram, folgt uns an die Bar“, sagt Leadsängerin Christina Kiesler, die man auch hinter der Bar treffen könnte, weil sie neben Comedy-, Musik- und Schauspielauftritten auch noch in der Gastro arbeitet. Kiesler legt während des Auftritts die Zirkusdirektorinnenjacke ab und entblößt die mit Ducttape auf die Brust geklebten Worte „eff eff“, springt durchs Publikum und legt insgesamt auf dieser Gemeindebautheaterbühne eine regelrechte Stadionshow hin. Hanna Simons hätte das Lied gerne in Dauerschleife zur Opernball-Übertragung gehört, für Wurstaufschnitt ist aber die Performance überzeugend gewesen. Großes Lob für den Text kommt dann von Sigi Horn, für die das der „Drahdiwaberl-Moment“ auf diesem Protestsongcontest war. Das Gesicht von Georg Freizeit hat man bei dieser Wortmeldung leider nicht gesehen; denn der hat anno 2004 von Drahdiwaberl-Frontmann und PSC-Juror Stefan Weber null Punkte bekommen, weil er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Pornostar“ getragen hat. Ende Geschichtsexkurs.

Protestsongcontest 2024

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beda mit palme, „Gredt wird vü“

beda loopt live seine Stimme, seine Ziehharmonika und das Keyboard und das schaut anstrengend und kompliziert aus; seine tanzbare Kritik an Meinungsüberfluss und Faktenmangel funktioniert aber live richtig gut. „Wenn er die Nummer auf einem Bierzelt-Fest spielt - die dadns ned checken“, sagt Georg Freizeit. Dann ziert sich die Jury etwas, und Hanna Simons weiß auch warum: „Mich hat das jetzt schon zum Nachdenken gebracht, dass man seine Meinung nicht immer auch sagen soll.“ Es ist einer besten Sickerwitze des Abends. Aber sie legt nach: „Ich wäre ja schon froh, wenn die Menschen ihre Informationen aus einer richtigen Zeitung beziehen würden und nicht aus Propagandakanälen, die sich im Internet als echte Medien verkleiden und dafür auch noch Medienförderung bekommen.“

Protestsongcontest 2024

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Delilah, „Hab keine Angst“

„Ich hab Gänsehaut bekommen“, sagt Lionel Koller aka Wurstaufschnitt zu Delilahs in Liedform dargelegtem Mord am Patriarchat. Und leitet einen einstimmigen Lobes-Chor ein, den Beobachter:innen schon als Vorzeichen des Sieges von „Hab keine Angst“ deuten. Hanna Simons ist von der Darbietung zu Tränen gerührt, kann aber trotzdem eine Textanalyse formulieren: „Das Patriarchat wird als Wurzel des Übels benannt, weil das Patriarchat eben die Strukturen geschaffen hat, die uns jetzt in den Abgrund reißen.“ Dem gibt es fast nichts hinzuzufügen. Doch Juryvorsitzende Sigrid Horn fällt doch noch etwas ein: „Dieses ‚Hab keine Angst, es tut auch nicht weh, es geht schnell vorbei, es geht auch ganz schmerzfrei‘, das hat mich extrem wütend gemacht und ich hab nicht genau gewusst, warum. Und dann ist mir bewusst geworden: das sind genau die Worte, die übergriffige Menschen sagen, bevor etwas passiert.“ Wegen solcher Analysen ist Sigrid Juryvorsitzende!

Protestsongcontest 2024

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Raimbuck, „Es wird wieder passieren“

Raimbuck haben zu Beginn kleine technische Schwierigkeiten und performen dann merklich nervös. „Es tut mir fast leid, was ich jetzt sage. Ich finde, dass das ein gutes Beispiel dafür war, wie eine ein bissi unperfekte delivery die Kraft von einem Song wegnehmen kann.“ Es tut Alica Ouschan aber nur fast leid. Der Text wäre nämlich auch angesichts des Correctiv-Artikels zur geheimen deutschen Deportations-Konferenz brandaktuell. Herwig Zamernik widerspricht: „Mich hat noch nie ein Protestsong so gerührt wie der jetzt, und auch die Performance. Alles richtig gemacht.“ Michael Ostrowski versucht in seiner Funktion als Navigator durch den Abend diese Rührung zu ergründen, es gelingt ihm aber nicht. Das Ende der Umbaupause kommt und dieses Riff kann umschifft werden.

Protestsongcontest 2024

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Laura Braun, „Nullsummenspiel“

Laura Brauns Lied gegen Kinderarmut gibt es nur, weil die Singer-Songwriterin in Deutschland eine Förderung im Zuge der Corona-Hilfen bekommen hat. Diese Förderung hat die Band und die Produktion finanziert und ohne sie wäre das Lied auch nicht beim Protestsongcontest gelandet. Sie wirkt als hätte sie ein schlechtes Gewissen, für ihre Arbeit eine Förderung bekommen zu haben. „Kennst du René Benko?“ fragt Michael Ostrowski sie. „Nein“, antwortet Laura. „Gott sei Dank, da wünsch ich dir auch alles Gute, dass du ihn nicht kennenlernen musst.“
Die Jury ist sich einig: das war groß!
„Gute Songwriterinnen können erzählen und dich mit dieser Erzählung irgendwohin mitnehmen. Und das war die beste Erzählung des Abends.“ Für diese Aussage bekommt Sigi Horn beinahe so viel Applaus wie Laura Braun.

Protestsongcontest 2024

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Kreiml, Fate und Alligatorman, „Eins Vierzig“

Noch ein Song gegen Armut, beide sehr unterschiedlich, dieser hier ebenfalls sehr gut, findet Alica Ouschan: „Es ist schon ein Privileg, wenn man über so ein Thema humoristisch sprechen kann.“ Das Lachen ist Sigrid Horn zwar im Hals stecken geblieben, aber sie ist trotzdem mitgerissen worden: „Alle Lieder heute Abend sind dafür da, dass sich Menschen angefeuert fühlen. Das sind die Cheerleader quasi!“ Und kaum ein Refrain heute Abend hat einen so anfeuernden Charakter. Die drei Rapper haben passend zum Lied Burger mitgebracht, für Veganer*innen sogar mit pflanzlichen Patties. Der Witz ist ein bissl letschert, aber das sind die Burger ja auch.

Protestsongcontest 2024

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Schwesta Ebra, „0171719“

Nein heißt nicht ‚überrede mich‘, Nein heißt nicht ‚ich will erobert werden‘, Nein heißt nicht ‚vielleicht‘. Nein heißt nein“, sagt Schwesta Ebra. Lionel Koller ist begeistert, aber es gibt auch Kritik: Hanna Simons fehlt im Text der Aspekt der häuslichen Gewalt, immerhin findet die große Mehrheit aller Gewalttaten gegen Frauen im direkten persönlichen Umfeld statt. Alica Ouschan sieht das anders, geht es im Text doch auch darum, dass „alle sagten, er ist so freundlich“. Zumindest sind sich alle darüber einig, dass es ein unglaublicher Geniestreich ist, eine Telefonnummer zum Refrain zu machen. Die 0171719 kennen jetzt wirklich alle.

Protestsongcontest 2024

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Vorjahressiegerin KüR bringt mit ihrem Auftritt während des Jury-Konklave eine Sanftheit in den Saal, die es auch braucht. Vor allem, weil es ja gleich anschließend richtig wild wird. KüR war im Vorfeld bei OK FM4 zu Gast, ein hörenswertes Interview!

Die Punktevergabe

Jetzt geht es ratzfatz, auch wenn Juryvorsitzende Sigrid Horn gerne noch eine Nacht darüber geschlafen hätte. Schnell setzen sich eff eff etwas ab, immer wieder holen Delilah und Laura Braun auf und dann schafft das siebente Jurymitglied, das Publikum, das Undenkbare: Gleichstand zwischen eff eff und Laura Braun. Die Verwirrung ist Michi Ostrowski ins Gesicht geschrieben und auch PSC-Miterfinder Gerald Stocker schaut, als würde er sich zwar vage erinnern, dass es irgendwo im mündlich überlieferten Regelwerk eine Lösung für diesen Fall geben müsste, fällt aber auf die Schnelle das salomonische Urteil: Zwei Sieger:innen, zwei beste Protestsongs 2024!

Das Voting beim PSC2024

Chili Gallei

Der Verwirrung folgen längere Umbaupausen, die diesen Protestsongcontest zum längsten aller Zeiten machen; belohnt werden alle, die dran geblieben sind, mit einem wunderbaren zweiten Auftritt von Laura Braun und der völligen Eskalation von eff eff. Christina Kiesler freut sich darüber, den Contestcharakter des Protestsongcontests zerstört zu haben. Dabei ging es ja nie ums Gegeneinander - aber es hat halt 20 Jahre gebraucht, bis das auch überall angekommen ist.

Protestsongcontest 2024

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Laura Braun mit ihrer PSC-Trophäe

Protestsongcontest 2024

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Für eff-eff-Sängerin Christina wird ein Traum wahr: „Ich hab ma dacht, wenn ich jemals im Rabenhof spiel, möcht ich möglichst wenig anhaben.“

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