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London Bürgermeisterwahlen 2024, Kandidat:innen und Impressionen

BENJAMIN CREMEL / AFP

ROBERT ROTIFER

Zum dritten Mal dieselbe Nummer

Sadiq Khan ist zum dritten Mal Londoner Bürgermeister geworden. Warum die islamophobe Instrumentalisierung seiner Herkunft auch beim dritten Mal scheitern musste.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Es ging das Gerücht um, dass es knapp werden würde.

Die Londoner Bürgermeisterwahlen hatten zwar schon am Donnerstag stattgefunden, aber aus administrativen Gründen begann die Zählung der Stimmen erst am Samstag. Auch Exit Poll gab es zumindest offiziell keinen. Aber umso mehr Gerüchte eben.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

„Hold on to your hats“, x-te die BBC-Journalistin Laura Kuenssberg, es sei „klar, dass das Rennen viel viel knapper“ werde als vorhergesagt. „Könnten das die knappsten Londoner Bürgermeisterwahlen je werden?“ fragte der Evening Standard, die verbliebene hohle Hülse einer einst ernstzunehmenden Stadtzeitung.

In der Zwischenzeit trudelten die Ergebnisse von 106 anderen Lokalwahlen herein, die am selben Tag in verschiedenen Regionen Englands abgehalten worden warden. Nebst einer By-Election für den Unterhaussitz in Blackpool South nach irgendeinem konservativen Korruptionsskandal rund um den dortigen Abgeordneten. Ein Rücktritt, dessen Grund niemand sonderlich interessierte (irgendwas mit Lobbying für die Glücksspielindustrie). Jedenfalls nicht die Leute, die von Berufs wegen erklären, warum derzeit nur jede:r fünfte die Tories wählen würde (irgendwas mit bisher ausgebliebenen Deportierungen nach Ruanda, die es laut einer absurden, aber durch ständige Wiederholung normalisierten Logik bräuchte, um Flüchtlingsboote im Ärmelkanal aufzuhalten).

In der Praxis bedeutet der an so einem Wahldonnerstag ausgelöste Überfluss an Wahlergebnissen, dass man zu viel seiner Lebenszeit mit einer Packung Tacos und Salsa vor rollenden News-Kanälen verbringt und dort Menschen beim aufgeregten Fuchteln zwischen virtuellen Zahlenkolonnen zusieht, die sich hin und wieder marginal verändern. Darin liegt der ganze Thrill.

London Bürgermeisterwahlen 2024, Kandidat:innen und Impressionen

BENJAMIN CREMEL / AFP

Man will uns immer wieder einreden, es sei lustig, dass Count Binface bei den Bürgermeisterwahlen antritt. Also bitte, pflichtgemäß: Count Binface.

Das Problem ist dabei allerdings, dass das Salsa nie zur selben Zeit aus ist wie die Tacos. Bzw. dass es einfach verflucht viele Orte in England gibt, wo man Gemeindevertretungen wählen kann. Und ein völlig undurchsichtiges „System“ verstreuter Bürgermeisterämter in Städten und Regionen, bei dessen Erklärung ich – fürchte ich – hier alle bis auf die Hardcore-Anglophilen verlieren würde. Also bleiben einmal bei London:

Sie hatten wirklich getan, was sie konnten, um die Bürgermeisterwahl spannend zu machen.

Zunächst einmal mit technischen Mitteln:

Nachdem Sadiq Khan seine bisherigen beiden Mehrheiten unter dem „Second Preference Vote“-System erreicht hatte (Ersatzstimmrecht) und de facto niemand, die:der etwa ein:e grün:e Kandidat:in als Erststimme wählte, je eine:n konservative:n Kandidat:in als Zweitstimme angab, wurde das Londoner Wahlrecht per Gesetz aus Westminster auf das primitive, alte Mehrheitswahlrecht umgestellt, so wie es auch in Unterhauswahlen gilt.

Schon unter Boris Johnson hatten die Konservativen außerdem nach US-Vorbild eine Lichtbildausweispflicht beim Wahlgang eingeführt. Angeblich zur Bekämpfung von Wahlbetrug (ein nicht-existentes Phantomproblem), tatsächlich, um arme Leute, die keinen Pass besitzen und sich auch keinen leisten können (kostet über 100 Euro), vom Wählen abzuhalten.

Dieser Move ging allerdings nach hinten los, da vor allem ältere, tendenziell konservativ wählende Menschen ohne Ausweis im Wahllokal erschienen und weggeschickt werden mussten.

Unter ihnen diesmal unglaublicherweise auch Boris Johnson selbst. Der glaubte offenbar auch diesmal wieder, die Regeln gelten für alle außer ihm.

London Bürgermeisterwahlen 2024, Kandidat:innen und Impressionen

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Die andere Methode zur Verhinderung eines Rekords von drei Wahlsiegen hintereinander für Bürgermeister Sadiq Khan war jene, die schon bei seinen ersten beiden Wahlsiegen 2016 und 2021 nicht geholfen hatte.

Vor acht Jahren schrieb ich hier eine Geschichte darüber, wie die Tories versuchten, Khan wegen seiner muslimischen Identität als Sohn pakistanischer Einwander:innen eine Nähe zu Extremismus und Terrorismus anzudichten. Und eine andere darüber, dass ihnen das in einer kosmopolitischen Stadt wie London nicht gelang.

Bei den aus Covid-Gründen verschobenen Wahlen 2021 kandidierte Shaun Bailey, der schon Jahre zuvor einen Tweet geteilt hatte, in dem Sadiq Khan als „Mad Mullah of Londonistan“ bezeichnet worden war. Ähnlich subtiles Material findet sich auch in der Twitter-History von Susan Hall, der Kandidatin, die diesmal für die Tories antrat.

Halls Hauptangriffslinie in ihrem Wahlkampf gegen den amtierenden Bürgermeister war diesmal aber nicht dessen Herkunft, sondern eine Law & Order-Offensive (angesichts des tatsächlich nicht zu leugnenden Problems grassierender Messerstechereien auf Londons Straßen) und eine Kampagne gegen Einschränkungen des Autoverkehrs, insbesondere die gebührenpflichtige Ultra-Low Emission Zone, kurz ULEZ.

Das waren nun Themen, mit denen sich unterschwellig und scheinbar legitim an gewisse Instinkte in der Wähler:innenschaft appellieren lässt.

Laut Hall hat insbesondere die „Schwarze Community“ ein „Problem mit Kriminalität“. Den Kulturkrieg rund um ULEZ wiederum hab ich hier schon einmal erklärt).

Doch wiewohl Hall vom rechtspopulistischen Flügel ihrer Partei kommt, fehlt ihr zum Ausspielen des trumpistischen Playbook das rhetorische Talent bzw. die Bereitschaft zur strategischen Verbaleskalation zwischendurch als Signal ans Gefolge.

Also kam ihr im Februar der konservative Hardliner Lee Anderson zu Hilfe. Er nützte seine Plattform auf dem rechten Infotainment-Sender GB News zu der Behauptung, London und sein Bürgermeister Khan stünden „unter der Kontrolle von Islamisten“. Und schon war wieder klargestellt, worum es bei diesen Wahlen nun wirklich ging.

Nun könnte man ja meinen, es wäre grundsätzlich nicht so schlau gewesen, gegen Sadiq Khan noch ein drittes Mal die islamophobe Karte zu ziehen, wenn es schon zweimal nicht funktioniert hat. Andererseits hat der Krieg im Nahen Osten zu regelmäßigen Demonstrationen in Londons Innenstadt geführt, für deren Zulassung man doch praktischerweise den muslimischen Bürgermeister verantwortlich machen konnte.

Allein, diese Rechnung ging nicht auf.
Entgegen oben zitierter, haltloser Behauptungen war das Wahlergebnis dann doch kein knappes. Sadiq Khan erhielt 45, Susan Hall nur 33 Prozent der Stimmen. Und wäre da nicht der Hype in letzter Sekunde gewesen, dann stünde hier nun statt „nur“ das Wort „immerhin“. Denn dass sich im multiethnischen London mit einer derart limitierten, kryptorassistischen Autofahrer-Agenda ein Drittel der Wähler:innen mobilisieren lässt, ist eigentlich eh erstaunlich.

London Bürgermeisterwahlen 2024, Kandidat:innen und Impressionen

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Hall und Khan, einander sichtlich nicht sympathisch

Eine relativ milde Niederlage jedenfalls im Vergleich zu erwähnten 107 anderen lokalen Wahlen am selben Tag, in denen die Tories fast die Hälfte ihrer Sitze in Gemeindeverwaltungen, einen wesentlichen Bürgermeisterposten (in den West Midlands) und den Parlamentssitz in Blackpool verloren.

Die Aussichten der Tories auf die für Ende dieses Jahres erwarteten, nächsten Unterhauswahlen sind dementsprechend noch ein Stückchen düsterer geworden – noch dazu, wo ihnen neuerdings wieder die sogenannte Reform Party als Nachfolgerin von UKIP am rechten Rand Stimmen streitig macht.

Auf der Suche nach Problemen für die im Großen und Ganzen siegreiche Labour Party landeten jene, deren Beruf das ist, dagegen erst recht wieder beim Krieg im Nahen Osten.

Und da ist zugegebenermaßen auch was dran, denn tatsächlich hat das Festhalten von Parteichef Keir Starmer an der Solidarität zur israelischen Regierung, für deren Feldzug in Gaza Großbritannien Waffen liefert, Labour – und auch Sadiq Khan – ganz sicher viele Stimmen gekostet.

Allerdings nicht nur, wie allseits formuliert, in Wahlkreisen mit einer starken „muslimischen Community“, die entweder zu Hause blieb oder (zu wesentlich geringerem Teil) die auf das Thema Gaza fokussierte Workers Party of Great Britain wählte. Sondern wohl auch unter jüngeren Wähler:innen, die zunehmend zu den im UK wesentlich weiter links gepolten Greens überlaufen (dazu hier demnächst mehr und Genaueres).

Was die, deren Beruf das ist, immer zu erwähnen vergessen ist, dass diese erhebliche Zahl der wegen der britischen Position zu Israel und den palästinensischen Gebieten politisch Entfremdeten aber nicht nur von Labour, sondern vom gesamten politischen Establishment entfremdet sind.

Bei den Tories werden sie sicher keine wählbare Alternative finden.

Schon gar nicht nach noch einem Wahlkampf wie diesem.

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