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Auto mit Sticker "I identify as a Prius"

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

ULEZ rules OK?

In London soll am 29. August die gebührenpflichtige Ultra Low Emission Zone (ULEZ), eine Einfahrgebühr für besonders umweltverschmutzende Fahrzeuge, bis zum äußersten Stadtrand erweitert werden. Darum ist nun ein tiefer Kulturkampf entbrannt, der wie üblich falsche Gegensätze schafft.

Von Robert Rotifer

Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als ich begriff, was da auf uns zukam. Es war vor einem Monat, ein Donnerstagmorgen. Ich musste mit dem Auto in die Stadt, wie das manchmal so vorkommt, wenn man keine andere Wahl hat, zum Beispiel einen Gig spielt oder – wie diesmal – jemandem beim Umzug hilft.

Ich saß gerade wie erwartet im dichten, völlig unbeweglichen Stau vor dem Blackwall Tunnel, dem Nadelöhr, wo man durch muss, um unter der Themse hindurch von Süd- nach Nord-London zu kommen. Vor mir die Skyline der Bankentürme der Canary Wharf und der graue Buckel des O2-Centre (ehemals „Millennium Dome“). In der Spur links von mir sah ich durch die von der Hitze der Abgase spiegelnde Luft hindurch einen schwarzen Pick-Up-Truck mit einem Sticker an der Heckscheibe, der in einem Satz zusammenfasste, was derzeit dieses Königreich zerfrisst und seine Bewohner:innen gegeneinander aufhetzt: „I identify as a Prius.“

Nehme an, ihr könnt riechen, in welche Richtung das geht, aber ich darf’s kurz dekodieren: „Ich identifiziere mich als Prius“, das ist einerseits natürlich eine Anspielung auf die Selbstidentifikation von Transgender- oder non-binären Menschen bzw. die Sorte lahmes Witzchen, die Leute über jene machen, wenn sie meinen, sie wären grad auf was Originelles draufgekommen.

Andererseits bezieht es sich aber auch auf die zwei Umweltschutz-Mauten, die manche Autofahrer:innen im Londoner Stadtgebiet bezahlen müssen:

Die Congestion Charge, umgerechnet 17 Euro 60 im Zentrum der Stadt für alle, die dieses nicht bewohnen, sowie die umgerechnet 14 Euro 65 Gebühr zum Befahren der Ultra Low Emission Zone (ULEZ, gesprochen „Juhles“), die derzeit bis in die inneren Außenbezirke der Metropole reicht, fällig für Benützer:innen älterer, modernen Abgasnormen nicht entsprechender Autos, wie zum Beispiel den Pick-Up-Truck mit dem Sticker drauf.
Oder unseren eigenen, 23 Jahre alten Volvo.

Wer dagegen – so wie fast alle Uber-Fahrer:innen – einen Toyota Prius, also einen Hybrid oder gleich das abgasfreie E-Modell fährt, ist von beiden dieser Gebühren ausgenommen und darf umsonst rein.
„Und mein Benzin gurgelnder Truck auch, so wie ein Mann als selbst erklärte Transfrau ins Frauenklo darf! Gleiche Rechte für alle, harharhar“, ist die implizite Polter-Pointe des zitierten Stickers.

Der Umstand, dass die zwei Themen Umweltschutz und Trans-“Debatte“ dabei zusammenfinden, ist natürlich alles andere als zufällig. Er ist ein Symptom jener fatalen, toxischen Entwicklung des politischen Klimas unserer Zeit, wo jeder Versuch, diesen Planeten für Mensch und Tier bewohnbar zu erhalten, zum Teil des Projekts „Wokeness“ erklärt wird. Bei euch wie bei uns und wie zuvor schon in den USA.
Diese Verschiebung des Umweltthemas vom Konsensschauplatz aufs Terrain des Kulturkampfs macht allen rationalen Umgang damit unmöglich. Und zwar in beide Richtungen.

Stau in London

Robert Rotifer

Just an diesem Donnerstag vor einem Monat, jenem 20. Juli, den ich großteils im Londoner Verkehrsstillstand verbrachte, fand eine sogenannte „by-election“ statt. Es ging um die Wahl eines neuen Abgeordneten für Uxbridge & South Ruislip, einem Wahlkreis am wohlhabenden westlichen Ende Londons, seit 2015 vertreten von einem gewissen Boris Johnson, der wegen mutwilligen Irreführens des Unterhauses vorläufig aus dem aktiven politischen Leben scheiden hatte müssen.

Johnsons Nachfolger Steve Tuckwell gelang es, die konservative Mehrheit dort gerade noch zu halten, indem er seinen Wahlkampf auf ein einziges Thema auslegte: Die Bekämpfung der vom Londoner Bürgermeister Sadiq Khan (Labour) durchgesetzten Erweiterung der ULEZ bis in den Bereich dieses Stadtrand-Wahlkreises, von Tuckwell dargestellt als ungerechte Bestrafung der einfachen, hart arbeitenden Leute in ihren einfachen ULEZ-pflichtigen Lieferwägen.

Tuckwells Erfolg versetzte eine Labour Party, die zu absolut allen Kurswechseln bereit scheint, um mit Erlaubnis der rechten Presse die nächsten Wahlen zu gewinnen, augenblicklich in Panik. Ihr Chef Keir Starmer entzog seinem Parteikollegen Khan prompt die Unterstützung für dessen ULEZ-Pläne bzw. für künftige Stadtmauten dieser Art in anderen urbanen Gebieten Großbritanniens. Was wiederum die gesamte progressive Blase in Schock und Aufruhr versetzte.

Gleichzeitig setzte sich Premierminister Rishi Sunak fotowirksam strahlend hinters Lenkrad von Margaret Thatchers altem Auto und legte noch ein wenig nach: „Talking about freedom, sat in Margaret Thatcher’s old Rover“, x-tweetete er. Die „Autofahrer:innen-feindliche Labour-Partei“ kapiere einfach nicht, „wie wichtig Autos für Familien sind, um ihr Leben zu leben. Daher überprüfe ich autofeindliche Vorhaben im ganzen Land.“ Er sei, erklärte er dem regierungsfreundlichen Daily Telegraph im Interview, „on the side of the motorists.“

Der britische politische Konsens hatte sich wegen des Ergebnisses einer einzigen By-election um 180 Grad gedreht: Von einer einstimmigen Unterstützung umweltschützender Maßnahmen zu einem Wettrennen, wer sich glaubhafter mit den Interessen von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen gepeinigter Autofahrer:innen identifiziert.

Und ich sitze seitdem wieder einmal vor meiner Timeline diverser sozialer Medien und sehe dabei zu, wie alle immer lauter aneinander vorbei reden. Mein eigener Standpunkt zu dieser Sache ist dort dagegen unveröffentlichbar, weil unerlaubt nuanciert. Also:

Es ist tatsächlich ein unerträglicher, himmelschreiender Skandal, dass allein in London pro Jahr 4000 Menschen vorzeitig an den Folgen der Luftverschmutzung sterben.

Ella Kissi-Debrah, die 2013 im Alter von nur neun Jahren an verschärftem Asthma starb, war nach dem 2020 gefällten Urteil eines Gerichtsgutachters die erste Londonerin, die offiziell als direkte Konsequenz nach EU- und UK-Richtlinien illegal hoher Stickstoffdioxid- und Feinstaubbelastung starb. Sie lebte nahe jener South Circular-Route, die heute den südlichen Rand der ULEZ markiert, wo sich also all der Autoverkehr konzentriert, der die mautpflichtige Zone umgehen will.

Ihr Fall illustriert, warum der Londoner Bürgermeister den Bewohner:innen seiner Stadt gegenüber die verdammte Pflicht hat, diese vor allem auf den Autoverkehr zurückzuführende Schadstoff-Belastung zu bekämpften. Und Khan tut das nicht bloß durch die ULEZ, sondern auch durch die Umrüstung auf elektrische Busse und Taxis und die Erweiterung des Radwegnetzes, wo es in seiner (allerdings begrenzten) Macht steht.

Da in den Londoner Vorstädten und nahe den Hauptverkehrsadern großteils die Ärmsten dieser sozial enorm gespaltenen Stadt leben, hat seine Erweiterung der ULEZ also eindeutig einen egalitären Aspekt, im Gegensatz etwa zur Congestion Charge im Zentrum, die schon bei ihrer Einführung vor 20 Jahren (damals kostete sie 5 Pfund, also ein Drittel von heute) einen unangenehmen Beigeschmack von Bevorzugung der Prestige-Gegenden aufwies.

So schrieb ich selbst hier am 5. März 2003:
„Natürlich gibt es da ein paar herbe Nebeneffekte, vor allem die arrogante Attitüde jener Luxuskarossenbesitzer, die mit Genuss demonstrieren, wie völlig wurscht ihnen popelige 5 Pfund sind (ich hab einige von ihnen für meinen Radiobeitrag interviewt). Doch dagegen ließe sich sagen, dass bei Gebühren von 8 Pfund pro Stunde in der Tiefgarage bzw. 6 Pfund pro Stunde in der Kurzparkzone die soziale Auslese schon lange vor Einführung der Congestion Charge begonnen hatte.“

Und das ist nun, mehr als zwei Dekaden später, eigentlich im Prinzip dasselbe Problem, das ich mit der ULEZ gleich zweifach habe: Natürlich ist diese Gebühr nämlich auch eine regressive Steuer. Denn während sie für den Typen mit dem ohnehin schon Unmengen an teurem Sprit schluckenden Pick-Up-Truck vermutlich kaum ins Gewicht fällt, liegt sie doch höher als eine Stunde Mindestlohn (derzeit umgerechnet 12 Euro 20) und wird per Datum verrechnet.

Wer also für eine Nachtschicht, etwa als Reinigungskraft in den erwähnten Bürotürmen, aus dem Londoner Umland anreist und im Morgengrauen wieder heimfährt, muss die ULEZ-Gebühr gleich zweimal zahlen und verliert dadurch allein schon mehr als ein Viertel des Lohns für acht Stunden Arbeit.

Dabei muss man wissen, dass diese Leute nicht am Rand der Stadt oder außerhalb leben, weil es im Grünen so schön ist, sondern weil die Wohnkosten in der Nähe ihrer Arbeitsplätze bei den Löhnen, die sie dort verdienen, schlicht nicht leistbar sind.

Und dass die privatisierten Bahnen diesen Zwang, außerhalb der Stadt zu leben, benutzen, um Fantasiepreise zu verrechnen, die das Autofahren selbst bei den derzeitigen Benzinpreisen oft noch zur billigeren Option machen. Eine Jahreskarte zum Pendeln zwischen Ebbsfleet an der Ringautobahn M25 und St Pancras im Zentrum kostet, bei 17 Minuten Fahrzeit pro Strecke, 6538 Euro. Beinahe doppelt soviel wie die ULEZ-Gebühr, wenn man 47 Wochen im Jahr 5 Tage die Woche in die Stadt fahren würde.

Wenn man die Dinge bis zur Ursache durchdenkt, liegt die Hauptschuld an der schlechten Luft in London eigentlich im Profit, der mit den hohen Immobilienpreisen und Wohnkosten gemacht wird. Denn das ist der Grund dafür, dass diese Stadt in ihrem ursprünglichen Grundzweck nicht mehr funktioniert. Weil dort kaum jemand mehr wohnen kann, wo sie:er arbeitet.

Dazu kommt noch, dass die ULEZ-Gebühr nur für ältere Autos verrechnet wird. Zahlen muss also, wer sich kein neues Auto leisten kann, während Menschen, die in umweltverschmutzenden, aber nagelneuen SUVs fahren, keine ULEZ-Gebühr bezahlen. Der weiße Lieferwagen mit den Bauarbeiter:innen drin zahlt, der fette Range Rover, in dem eine ganze und eine halbe Portion demonstrativen Upper Middle Class-Überlegenheitsgefühls zur privaten Prep School unterwegs sind, dagegen nicht.

Das ist weder sozial fair, noch ökologisch sinnvoll. Noch dazu, wo es – abhängig vom Fahrverhalten und dem Modell – umweltfreundlicher sein kann, ein altes Auto zu Schanden zu fahren als ein neues zu kaufen. Wann immer man hört, dass es zur Behebung der sozial ungleichen Konsequenzen der ULEZ bloß eine Verschrottungsprämie bräuchte, wird frustrierenderweise nie erwähnt, wie viel CO2-Fußabdruck eine Verschrottung und die Herstellung des als Ersatz dafür zu kaufenden Neuwagens verursacht.

Die ULEZ hat insofern auch eine sehr lokal zentrierte, aus Londoner Sicht gewissermaßen eigensinnige Komponente: Egal, was die Erzeugung ULEZ-konformer Vehikel anderswo auf der Welt an Verschmutzung verursacht, Hauptsache unsere Luft wird sauberer.

Es wäre nicht schlecht, wenn sich die progressive Bubble auf meiner Timeline auch mit diesen sehr unzufriedenstellenden Aspekten der ULEZ konstruktiv kritisch befassen würde, anstatt bloß Leute, die sich davon - vielleicht sogar zurecht - existenziell bedroht fühlen, in sozialen Medien zu veräppeln. Und ja, sehr wohl auch, weil soziale Unfairness sich auf Arten äußern kann, die einem:einer Rad, Underground oder Bus fahrenden, ebenfalls prekär lebenden jungen Journalist:in aus dem eigenen, Auto-unabhängigen Leben unbekannt sind.

Das Thema ist schließlich irgendwie doch zu wichtig, um es auf eine weitere Variante des verdammten Kulturkriegs zu reduzieren.
Sicher, Rishi Sunak und seine Freund:innen in der britischen Presse wollen es genau so, weil sie eine gefühlte Mehrheit der „Normalen“ für sich zu mobilisieren hoffen, die das ganze moralische Getue nervt, und die einfach so weiter tun wollen wie früher, als alles scheinbar noch einfacher war (kommt euch sicher bekannt vor).
Man sollte ihnen nicht den Gefallen tun, bei diesem falschen Spiel auch noch mitzuspielen.

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