FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Harri zeigt auf das Buch seines Vaters

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Mongo Stojkas gefundene Gedichte

Wie der Wiener Gitarrist Harri Stojka in einem Londoner Museum ein 80 Jahre altes, verschollen geglaubtes, handgefertigtes Buch der Gedichte und Zeichnungen seines Vaters aus dem KZ Buchenwald zu Gesicht bekam.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Der Gitarrist, eine drahtig dünne Figur unbestimmten Alters, hauteng in Schwarz gekleidet, sein langes, dunkles Haar mit hellen Strähnen nur dürftig gebändigt von einer schwarzen Baskenmütze, sein Gesicht eine kantige Skulptur, lässt seine langen Finger elegant wie Spinnenbeine über das Griffbrett einer Maccaferri-Gitarre sausen, zieht dabei expressive Grimassen, bleckt die Zähne.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Die Szene hat was Surreales, denn er sitzt da auf einem golden dekorierten, barocken, weißen Hocker mit tiefrotem Samtbezug, hinter ihm ein marmorner Kamin mit einer reich ornamentierten, goldenen Standuhr auf dem Sims.

Harri Stojka in voller Fahrt in der österreichischen Botschaft

Robert Rotifer

Als in diesem Land lebender österreichischer Journalist muss ich in den letzten 27 Jahren unzählige Male hier im Salon der Botschaft am Belgrave Square gesessen sein. Ich hab auch einige Leute hier Musik machen sehen, aber kein einziges Mal hab ich sie im Takt mitklatschen gehört, geschweige denn derart dringlich. Und kein einziges Mal hab ich hier geheult, geschweige denn so unkontrollierbar.

Tränen in der Botschaft

Wie ich beim Aufblicken merke, bin ich bei weitem nicht der Einzige. Vor mir in der ersten Reihe klatschen und weinen auch Sissi und Doris Stojka, die beiden Schwestern des Gitarristen.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass ihr Bruder Harri dieses Stück vorhin lapidar als „Song for my Daddy“ angekündigt hatte.

In seiner Einleitung des Auftritts hatte der Botschafter uns zuvor erklärt, Harris, Doris’ und Sissis Vater Johann „Mongo“ Stojka habe den Nazi-Genozid als nur eines von 6 Mitgliedern seiner vormals 200-köpfigen Lovara Roma-Familie überlebt – in seinem Fall konkret die KZs Dachau, Buchenwald, Auschwitz-Birkenau, Flossenbürg und schließlich den von Hinrichtungen und Erschießungen der völlig ausgemergelten Häftlinge gezeichneten Todesmarsch durch Niederbayern in Richtung Dachau (Mongos Geschichte ist unter anderem hier und hier anschaulich dokumentiert).

Ich denke also, es hat mit all dem zu tun und auch wieder nicht.

Der wahre Grund, warum mir hier die Tränenbäche über die Wangen laufen, ist nämlich die schiere emotionale Kraft jener unglaublichen Musik, die dieser Mann und sein Rhythmusgitarrist Claudius Jelinek da nur ein paar Meter vor meiner Nase machen.

Die Stojkas vor dem Imperial War Museum

Robert Rotifer

Doris, Harri und Sissi Stojka vor dem Imperial War Museum in London

Ich muss zugeben, ich hatte Harri Stojka nicht wiedererkannt, als er am selben Nachmittag im Kreis seiner Familie vor dem Imperial War Museum unten in Lambeth stand, zwischen seinen Schwestern, seiner Frau Valerie und seiner jungen Nichte (Mongos Enkeltochter) Julia Asenbaum (die übrigens als Künstlerin die Hälfte ihrer Zeit in London lebt).

Das letzte Mal hatte ich den heute 66-Jährigen als Teenager in elektrisch jazz-rockenden Line-ups spielen gesehen, in den Achtzigern in Wien auf verschiedenen Demos. Ich weiß nicht mehr, wogegen wir da demonstrierten, wahrscheinlich gegen einen Krieg. Immer gegen den Krieg. Und gegen den Faschismus. Immer.

Damals hatte ich wenig Ahnung davon, welche des Wundergitarristen persönliche Motive waren, sich hinter diese Sachen zu stellen. Ich weiß aber noch, dass er zu jener Zeit ganz anders aussah als heute. Fraglos jünger, aber auch - wie ich mich erinnere - ein bisschen breiter und sicher nicht lebendiger als jetzt.

„Er trinkt keinen Tropfen Alkohol mehr, keine Drogen, das macht wahrscheinlich auch was“, erklärte mir Claudius Jelinek, als wir alle hinter den Leuten vom Imperial War Museum die Treppen hinauf zur Holocaust Gallery des Hauses emporstiegen.

Der konkrete Anlass dieses Museumsbesuchs, des späteren Konzerts in der Botschaft und eines weiteren Konzerts am Abend zuvor für den britischen Holocaust Memorial Day Trust war der Fund eines acht Jahrzehnte alten, sehr fragilen Skizzenbuchs.

Seiten aus dem Skizzenbuch

Familie Stojka

Darin hatte ein KZ-Häftling mit den Initialen J.S. und dem Zusatz KLB (Konzentrationslager Buchenwald) versehene Gedichte und Zeichnungen über den Lageralltag in Buchenwald hinterlassen.

Seiten aus dem Skizzenbuch

Familie Stojka

Vergangenen Sommer hatte der in London stationierte Gedenkdiener Carlo Sossella die Familie Stojka kontaktiert. Mit einer für die Empfänger:innen unfassbaren Nachricht über jenes als Teil einer belgischen Sammlung an die Londoner Holocaust Gallery verliehene Büchlein:

„Wir können mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen, dass es sich bei dem Werk um eines Ihres Vaters handelt, da das Buch mit den ersten zwei Strophen beginnt, die auch in seinen Memorien ‚Papierene Kinder‘ zu finden sind. Daraus lässt sich schließen, dass Johann Mongo Stojka sehr einfallsreich war und möglicherweise mehrere Gedichte mit gleichen Anfängen verfasst hat, die er dann in seinem Überlebenskampf verkauft hat. Zusätzlich wurden die Werke alle im gleichen handschriftlichen Stil geschrieben und mit den Initialen J.S. unterschrieben. Die Zeichnungen im Buch entsprechen ebenfalls dem bereits bekannten Stil Ihres Vaters. Die Werke sind zwischen Herbst 1944 und Frühling 1945 entstanden, aber es lässt sich nicht nachweisen, woher das Papier und der Stift kamen.“

Seiten aus dem Skizzenbuch

Familie Stojka

Und jetzt stehen wir also vor genau diesem Buch, beleuchtet in einer Vitrine am finsteren Ende der Galerie, im Hintergrund als Soundtrack dazu eingespielt das Knarren eines Viehwaggons. Der Mann vom Imperial War Museum erklärt: „Diese Abteilung hier nennen wir ‚defiance‘ (‚Widerstand‘). Denn diese Menschen sind echte Menschen, man sollte sich nicht nur dafür an sie erinnern, was man ihnen angetan hat, sondern dafür, wer sie waren.“

„Wo habts ihr des her?“

Woraufhin der geduldig zuhörende Harri ihm mit einer Erklärung eines, neben dem vergilbten Skizzenbuch ausgestellten Familienbilds der Stojkas vor ihrer Verschleppung durch die Nazis aushilft: „Die Kinder vorn im Türkensitz sind links der Ossi, der ist dann an Typhus gestorben mit acht Jahren, der in der Mitte is unser Vater, auf dem Bild muss er zwölf sein, rechts davon ist Karl Stojka, ein ganz berühmter Maler, er hat auch Bücher geschrieben. Zweite von links ist unsere Großmutter, Sidonie Stojka, die Dritte von links ist unsere Tante Kathi... Wir haben das Bild zuhause. Aber wo habts ihr des her?“

Der Mann vom Imperial War Museum kann die Frage nicht so genau beantworten, also fühlt Harri sich ermutigt, ihm in einem wunderschön antiquierten Wienerisch auseinanderzusetzen, was er sonst noch weiß:

„Des is eine ganz oage Gschicht. Wie ich die Nachricht bekommen hab, dass des Buch von mein Vater gfundn woadn is, woa i irrsinnig skeptisch. Wer hot scho Zeit in so ana Stresssituation si hinzusetzen und Gedichte zu schreiben? In Buchenwald? Es war meines Wissens noch kein direktes Vernichtungslager so wie Auschwitz-Birkenau, aber es war ein Arbeits-, Konzentrations- UND Vernichtungslager. Und darum hab ich es nicht geglaubt.

Aber i hab mi dann erinnert: Mein Vater hat immer ein bestimmtes Gedicht aufgsogt. Er hod ober nie gsogt, dass er des niedergschriebn hod. I hob des dann über die Jahre vagessn einfach, weil i woa mit da Musik unterwegs und Rock und Punk Rock und alles. Und dann ham wir gekriegt Fotografien, des muss jetzt so vier oder fünf Wochen her sein. Und auf einer Fotografie woa genau des Gedicht, was er mir immer aufgsogt hot. Und do hob i gsogd: ‚Des kenn i do!‘ Gaunz zufällig! Wär des die Seite nicht gewesen, hätt i des nie geglaubt. I les oiso den Vierzeiler, und des is von mein Vota, i kenn des Gedicht seit mein achten Lebensjahr, und seitdem hat’s für mi keinen Zweifel gegeben, dass des einfach sein muss.“

Harri zeigt auf das Buch seines Vaters

Robert Rotifer

„Da isser!“

Bei diesen Worten hebt Stojka den Finger und zeigt geradewegs auf das Buch in der Vitrine.

„Und da isser. Und für mich hat das ja denselben Stellenwert wie das Tagebuch der Anne Frank, weil das wurde ja vor Ort geschrieben. Man muss sich vorstellen, jeder Buchstabe, der da geschrieben worden ist, ist irgendwer draußen vor der Haustür, hamdraht, vergast, verbrannt, erschlagen worden. Bei jedem Buchstaben ist da irgendwer ums Leben gekommen vor der Baracke. Das ist vor Ort in der Hölle geschrieben, da sitzt dieser 13-jährige Junge, schreibt das, macht Zeichnungen dazu und hat dabei den Hintergedanken, dass er seiner Familie vielleicht durch diese Gedichte Essen bringen kann. Was zum Essen organisieren.“

In seinen Versen hat der junge Mongo vom Hunger im Lager geschrieben, „Herr Stubendienst Teiln sie schon aus / Ich hab ein Hunger wie die Maus.“ „Riechst du das Essen im 1. Stock / Los schnell hinein in uns’ren Block.“ „Siehst du den Fass da Drüben / Heut gibt es Steckerüben.“

„Er hat ja das nicht verkauft im Lager“, sagt Stojka, „da ging’s ja um Tauschgeschäfte. Er ging halt zu dem Kapo, diesem Vorarbeiter, einem kommunistischen Häftling, der hat das gelesen, hat den kleinen verhungerten Buam gsehn und hat wahrscheinlich Mitleid kriegt. Und er hat ihm dafür ein Stück Brot gegeben.

Aber die Geschichte geht ja noch weiter. Was für mich das Unglaubliche ist, ist, dass dieser Vorarbeiter den Wert dieses Werkes erkannt hat und das aufgehoben hat über die Jahre und dann noch gewusst hat, dass er das einer Organisation übergeben muss, damit es bleibt. Und jetzt ist es da, und für uns vier, für die Julia, die Sissi, die Doris, die Valerie und mich ist das eine derartige Sensation, das lasst sich gar nicht beschreiben.“

Der menschliche Kapo aus Belgien

Wie sich herausstellt, war ein belgischer politischer Häftling namens Georges Hebbelnick jener Kapo gewesen, der Mongo gegen Brot den Skizzenband abgenommen hatte. Rückblickend hatte Mongo (er starb 2014 im Alter von 84 Jahren) seinen Kindern neben Schilderungen der Gräuel im KZ auch immer wieder diese Geschichte der Menschlichkeit erzählt.

Dabei ahnte niemand, dass der Käufer des Buchs (Hebbelnick) ebenfalls Buchenwald überlebt, 1945 als Zeuge der dort begangenen Verbrechen ausgesagt (hier ein Bild von ihm neben anderen Zeugen), danach bis zu seinem frühen Tod 1964 in Belgien als Journalist und Romanautor gelebt und während all der Jahre Mongos Buch wie einen Schatz aufbewahrt hatte.

Seinen Nachlass, und damit auch das Buch, vermachte Hebbelnick dem belgischen Archiv der Arbeiterbewegung, von dort fand es seinen Weg in die belgische Holocaust-Gedenkstätte Kazerne Dossin und von da eben ins Imperial War Museum bzw. in die Hände des aufmerksamen österreichischen Gedenkdieners. Tatsächlich eine erstaunliche Reise. Was nun auch den Mann vom Imperial War Museum sichtlich berührt, als ich ihm Harris Worte murmelnd übersetze.

„Und eins möcht ich noch sagen“, setzt Harri fort, „Also wenn wir Musik machen, das ist unser Job, und das machen wir gern. Aber für mich war gestern wirklich, und das soll jetzt nicht wie eine Selbstbeweihräucherung klingen, sondern das ist eine Tatsache, dass ich, ein Punk-Rock-Musiker, ein Underground-Jazz-Musiker, dort steh mit einer Kerze, stellvertretend für 500.000 ermordete Menschen, und diese Verantwortung, ich weiß nicht, ob ich das wirklich wert bin, oder ob ich diese Verantwortung tragen kann. Aber es macht einen natürlich sehr stolz. Und ja, that’s it.“

Der Mann vom Museum blieb darauf sprachlos.

Ein paar Stunden später, an jenem eingangs beschriebenen Abend in der Botschaft am Belgrave Square sollte Harri dann nicht stellvertretend für hunderttausende NS-Opfer unter den Roma und Sinti spielen, sondern ausschließlich für sich selbst. Und eben „for my daddy“. Als einer, der schon in jungen Jahren beschlossen hatte, seine persönliche „Vervollkommnung“ im Gitarrespielen zu finden, anstatt „endlos in der Geschichte herumzustierln. Des is a mein Recht.“

Das ist es auch. Allerdings nicht das Recht der Nachfolgergesellschaften des NS-Regimes im heutigen Deutschland und Österreich.

Am heutigen 79. Jubiläum der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee ist diese Geschichte hier daher auch ein Beitrag zum Holocaust-Gedenktag der UNO bzw. dem deutschen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, der durch die Vernichtungsmaschinerie des NS-Regimes ermordeten sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden, vieler hunderttausender Roma und Sinti, sowie Millionen politischer Häftlinge, kriminalisierter sexueller Identitäten, neurodiverser und körperlich behinderter Menschen, Zeug:innen Jehovas, Kriegsgefangener, Zwangsarbeiter:innen und der Zivilbevölkerung bzw. der Widerstandskämpfer:innen im Zweiten Weltkrieg vom sogenannten Dritten Reich überfallener Länder.

Familie Stojka im Jahr 2004

Felicitas Kruse

Familie Stojka im Jahr 2004, Johann „Mongo“ Stojka im Vordergrund

Gedicht von Johann Mongo Stojka, der vor dem Krieg nur zwei Jahre Schulbildung genossen hatte, veröffentlicht in seinem derzeit vergriffenen Memoirenband „Papierene Kinder - Glück, Zerstörung und Neubeginn einer Roma-Familie in Österreich“ (2000):

Warst du in Lager Buchenwald,
Da Oben ist es gar so Kalt.
Du Kamst ja rein als Zivilist,
In Fünf Minuten Häftling bist.
Nun Kamst du rein in Gleidungsraum,
In angst griegst du in Mund den Schaum, Die guten Gleider giebst du Weg,
Und an griegst du ein Groβen Dreck.
Da stehd ein Mann für dich wie’n Baum Und sagt nun Komm in Wascheraum. Du schöne Lange Harre hast,
Die Klatze aber besser bast.
Nun Kammst du rein in deinen Block. Und setzt dich hin auf einen Flock,
Da ruft dich dein Freund von Weiten an. Zuerst warst du ein feiner Mann,
Und jetzt du Alter Freundchen Klaus
Du Aussiehst wie’ne Nasse Maus
Ach alter guter Freundchen Klaus
Wir kommen doch noch einmal Rauβ.

mehr Politik:

Aktuell: