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Rückseite eines Doppeldecker-Busses mit Stellenangebot des UK Home Office

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Die Ökonomie des permanenten Notfalls

Vordergründig eine Kolumne über die Farce der britischen Asylpolitik anhand der jüngsten Entwicklungen zum sogenannten „Ruanda-Plan“. Eigentlich aber eine Parabel zum Zustand westlicher Demokratien im 21. Jahrhundert.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Gestern schaute ich aus dem Schlafzimmerfenster und sah in Augenhöhe das Logo des britischen Innenministeriums („Home Office“), schwarz auf orange. Daneben überlebensgroß die Augen eines ernst und auch ein bisschen scharf dreinblickenden Mannes.

Ich hatte diese Werbung auf der Rückseite von Doppeldeckerbussen schon gesehen, aber noch nie so nahe. Im Grunde genommen ist es ja eine große Job-Anzeige: „Join the immigration team protecting the UK border“ - ein Aufruf, die Grenzen des Vereinigten Königreich zu „schützen“, an Großbritanniens Flughäfen, an den Terminals der Kanalzüge, an den Fährenhäfen und direkt an der Küste. Denn „Home Office Career“ reimt sich mit „It matters more here.“

Abschreckung aus Mitgefühl

Das hat schon was, die Idee, Grenzbeamte:r zu werden, um seinem Leben mehr Sinn zu geben. Nicht falsch verstehen, es kann gute Gründe geben für diese Berufswahl (die Miete bezahlen, ein schicker schwarzer Dienstanorak...), aber „it matters more“ wäre mir jetzt spontan nicht eingefallen.

Es passt allerdings in eine Zeit, in der das Fernhalten von Fremden gern auch als eine Art quasi-karitativer Akt dargestellt wird. Eine Art von tough love gegenüber jenen fehlgeleiteten Kreaturen, die es sich in den Kopf setzen haben lassen, hier einwandern zu wollen.

Wer echtes Mitgefühl hat, bekämpft die Menschenschmugglerei, indem er die geschmuggelten Menschen in den nächsten Flieger setzt, zum Beispiel nach Afrika. Das, so geht die bizarro-philanthropische Logik, entmutigt Nachkommende so sehr, dass sie lieber doch zuhause bleiben.

Im April 2022 hatte ich hier zum ersten Mal über die Pläne der britischen Regierung berichtet, Asylsuchende zur Abschreckung zwangsweise in den zentralafrikanischen Staat Ruanda zu schicken. Ein Thema, das seither durch die britische (und, wie ich gehört habe, auch die österreichische) Öffentlichkeit geistert, daher kam es in meinen Kolumnen dann auch immer wieder zur Sprache:

Im Juli ’22 vor Boris Johnsons Rauswurf/Rücktritt, im Oktober ’22 nach dem Rauswurf/Rücktritt seiner Nachfolgerin Liz Truss, diesen März als das auserwählte Lieblingsthema ihres Nachfolgers Rishi Sunak und dann wieder im Sommer, als mir in Holland ein potenzieller künftiger Asylsuchender über den Weg lief.

Ich hab mir diese alten Geschichten jetzt wieder durchgelesen und muss sagen: Ist ja alles interessant, aber viel zu lang, Robert! Ja, ich weiß schon, es ging mir immer darum, die jeweiligen fremdenfeindlichen und rassistischen Ausritte der Regierung im tagespolitischen Kontext darzustellen.

Mittlerweile sind wir allerdings an dem Punkt angelangt, wo „Kontext“ im Diskurs sozusagen zum Negativwort des Jahres gemacht wurde. Als verlässlicher Trigger performativer Missverständnisse, die alle in ihrem Umkreis gefassten Gedanken auszulöschen vermögen. Und zugegeben, manchmal hat das Weglassen des Drumherums ja auch wirklich seine gute Seite.

So wird etwa das Thema „Rwanda policy“ im britischen politischen Diskurs mittlerweile eigentlich nur mehr in Verknüpfung mit den zunehmend unüberblickbaren Fraktionskämpfen innerhalb der Tories behandelt.

Täglich werden komplex klingende Texte darüber veröffentlicht, wer mit wem gegen Rishi Sunak intrigiert, und was das für dessen Autorität als Premierminister bedeutet.

Das macht den falschen Eindruck, dass es hier a) um eine interne Angelegenheit der Westminster-Blase und b) um ernsthafte politische Optionen ginge.

Tatsächlich ist der Sachverhalt gleichzeitig völlig grotesk und in sich schlüssig.

Sehen wir uns einmal die Ausgangslage an:

Die Zahl der Asylsuchenden, die in Großbritannien auf einen Bescheid warten, lag im Juli dieses Jahres bei über 175.000, ein stetig wachsender Rückstau. Mit Ausnahme der speziellen Fluchtwege aus der Ukraine oder aus Hong Kong gibt es keinen legalen Weg, von außerhalb Großbritanniens um Asyl anzusuchen. Daher bleibt als Alternative nur der hochgefährliche Weg per Boot über den Ärmelkanal.

Im Jahr 2023 haben bisher etwa 28.000 Menschen auf dieser „illegalen“ Route Großbritannien erreicht, im Vorjahr waren es über 45.000. Dieser Rückgang geht auf das Ausbleiben albanischer Asylsuchender infolge eines dieses Jahr zwischen Großbritannien und Albanien geschlossenen Abschiebe-Abkommens zurück.

Mit der Drohung Ruanda hat das relative Sinken der immer noch hohen Zahlen jedenfalls nichts zu tun, denn der Ruanda-Plan der britischen Regierung existiert auch 18 Monate nach seiner Verkündung immer noch bloß auf dem Papier.

Die maximale Zahl an Asylfällen, die Ruanda für das UK zu einer gegebenen Zeit zu bearbeiten bereit wäre, liegt bei 200. Im Juni gab die Regierung trotzdem an, die völlig illusorische Menge von 24.000 Asylsuchenden nach Zentralafrika fliegen zu wollen.

Flüchtlingsanwält:innen ist es bisher gelungen, sämtliche dieser Abschiebungen unter Einsatz des britischen Asylrechts zu verhindern. Die Zahl der im Rahmen dieses Projekts bisher erfolgreich ausgeflogenen Asylsuchenden liegt daher derzeit bei exakt null.

Die Reaktion der Regierung war, wie es sich für Rechtspopulist:innen gehört, das Einwanderungsrecht zu verschärfen, die Anwält:innen als „lefty lawyers“ zu verunglimpfen und den Ruanda-Plan öffentlichkeitswirksam vor Gericht durchzufechten.

Vor einem Monat nun hat der britische Supreme Court in zweiter Instanz ein auf ausführlicher Expert*innen-Recherche fußendes Urteil gefällt, wonach Ruanda kein sicheres Drittland darstellt. Der Plan der Regierung ist somit offiziell rechtswidrig.

Performatives Auf- und Niederhüpfen

Dieses peinliche Urteil fiel nur zwei Tage, nachdem der neue Innenminister James Cleverly sein Amt von der geschassten Hardlinerin Suella Braverman übernahm. Eigentlich wären das die idealen Voraussetzungen dafür gewesen, einen Neuanfang zu machen und den ganzen Ruanda-Plan als Erbe der Amtsvorgänger:innen diskret zu begraben.

Aber die Regierung Sunak beschloss das genaue Gegenteil, nämlich: Noch eine Zusatzschicht Zynismus draufzulegen und den Status Ruandas als sicheres Drittland einfach per „Notgesetz“ festzulegen.

Man umarmt also das Paradoxon und behauptet, Ruanda sei gleichzeitig Abschreckung und passabler Zielort für Asylsuchende, die nach Großbritannien wollen. Und falls irgendwer letzteres in Frage stellt, dann gilt das alte englische Eltern-Argument „because I said so“.

Das in solchen Dingen üblicherweise um neutrale Distanz bemühte Institute for Government hat schon in seinem Explainer zu dem Gesetz darauf hingewiesen, dass jenes eigentlich gar nichts löst, weil künftige Deportationen immer noch beim Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg anfechtbar sein werden.

Das ist auch der Grund, warum nach der Hardliner-Innenministerin Suella Braverman nun auch deren verbliebener Staatssekretär Robert Jenrick unter Protest die Regierung verlassen hat. Der Tory-Rechten geht das Gesetz nicht weit genug, sie nimmt bei der Gelegenheit bereits Witterung ihres langfristiges Zieles auf, Großbritannien überhaupt aus dem Menschenrechtsabkommen auszugliedern.

Aber auch das ist bloß performatives Auf- und Niederhüpfen, denn eigentlich weiß doch jede:r, wie das Spiel nun weiterläuft:

Sobald der Gerichtshof in Straßburg gegen den britischen Staat entscheidet, kann man der eigenen Presse endlich wieder einen Feind von außen vorsetzen, noch dazu einen mit dem Reizwort „European“ auf dem Türschild. Am besten noch rechtzeitig vor der Wahl kommendes Jahr.

Das einzige Problem an dieser sehr durchsichtigen Strategie ist, dass die von ihrem Chef Keir Starmer auf zentristischen Gleichschritt gebrachte Labour Party dabei nicht die für sie vorgesehene linke Oppositionsrolle spielt.

Selbstverständlich wissen zwar auch alle, dass das Geschäftsmodell der Menschenschmugglerei sich in Wahrheit nur durch das Öffnen legaler Asylrouten vernichten ließe, aber auch Labour erlaubt sich einen solchen rationalen Zugang erst recht nicht. Politische Priorität ist, nur ja nicht als weich oder als Verbündete der „lefty lawyers“ zu erscheinen.

Stattdessen weist man lieber auf die Kosten des Ruanda-Plans hin, die inzwischen schon bei umgerechnet 337 Millionen Euro liegen.

Die Frage, ob dieses offensichtlich gescheiterte Projekt solche Summen wert ist, ist indessen natürlich auch nicht ganz ehrlich, denn sowieso weiß ebenfalls jede:r längst, dass es beim Thema Migration nicht um Lösungen geht, sondern um die Inszenierung von Notfällen zum politischen Zweck der Selbstdarstellung. Und, um wieder auf die Bus-Werbung vom Anfang zurückzukommen, für manche kann diese Krise auch ihr Ticket zu einer „Home Office Career“ bedeuten.

Rückseite eines Doppeldecker-Busses mit Stellenangebot des UK Home Office

Robert Rotifer

Diese Werbung jedenfalls ist eine gute Investition, denn auch da geht es in Wahrheit natürlich nicht wirklich um ein Stellenangebot, sondern darum, dass wir, die wir hinter dem Bus im Stau stehen, auch sehen, dass die Regierung was tut.

Zum Thema des verdeckten Profitierens von diesem künstlich herbeigeführten Notfall empfehle ich übrigens diesen gestern im Guardian erschienenen Auszug aus dem Buch „Wreckonomics: Why It’s Time to End the War on Everything“ von Ruben Anderson und David Keen.

Ein Toter auf der Bibby Stockholm

Den wahren Preis der permanent am Brodeln gehaltenen Migrationskrise bezahlen jedenfalls andere mit ihren Körpern, denn diese Politik kostet echte Menschenopfer. Erst im August ertranken im Ärmelkanal mindestens sechs Menschen, nachdem ein Boot mit über 70 Insass:innen gekentert war, beim schlimmsten Bootsunglück vor einem Jahr starben mindestens 27. Und erst diese Woche starb ein Passagier der dauerhaft im Hafen von Portland, Dorset, vor Anker liegenden Bibby Stockholm, de facto einem Containerschiff mit Fenstern, in dem 300 Asylsuchende unter offenbar unzumutbaren Zuständen untergebracht sind (Zielkapazität 500).

Auch diese Geste der performativen Inhumanität ist der Regierung viel Geld wert. Knapp 26 Millionen Euro hat die Bibby Stockholm den britischen Staat bisher gekostet.

Der verstorbene Asylsuchende beging übrigens Selbstmord. Laut Berichten seiner Mitgefangenen herrscht auf dem Boot die nackte Verzweiflung, vermischt mit der Angst, nach Ruanda abgeschoben zu werden.

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