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Leuchtturm von Newhaven

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

UK - Wie es aussieht, wenn die extreme Rechte regiert

Die Medien hier in Großbritannien tun so, als machten sie sich um Frankreich Sorgen. Dabei leben wir hier selbst schon längst unter einem „Schurkenpremier“. Ein Trip in die Normandie verschafft Klarheit aus der Distanz.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Das letzte, was ich im britischen Radio hörte, bevor ich eine Woche nach Frankreich fuhr (wo man gerade den ersten Gang der Präsidentschaftswahlen hinter sich gebracht hatte): Noch nie seien die Französ*innen so nahe dran gewesen, die extreme Rechte an die Macht zu bringen.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Ich lebe ja schon lange genug in Großbritannien, um die Ratio hinter dem britischen Blick auf Europa zu erkennen. Einerseits: „Schau sie dir an, die Verrückten. Gut, dass uns Weltmeister*innen der Mäßigung sowas nie passieren könnte.“ Andererseits: „Wenn die da drüben sowas wählen, dann rechtfertigt das doch irgendwie, was wir getan haben“ (in diesem Fall Brexit und Johnson). Der innere Widerspruch zwischen diesen dissonanten Sentimenten erzeugt eine seltsame Erregung und entlädt sich stets verlässlich in einem kaum verhohlenen Wunsch, die Horrorshow möge doch bitte wahr werden. Das heimliche Daumenhalten für Marine Le Pen alle fünf Jahre gehört quasi zum Brauchtum, nicht nur des britischen Journalismus, sondern der ganzen rechten Hälfte der Gesellschaft.

Ihr denkt, ich übertreibe? Meine in London lebende Kollegin Tessa Szyszkowitz hat heute eine aktuelle Umfrage dazu getweetet, derzufolge eine Mehrheit konservativer Wähler*innen sich einen Sieg von Le Pen wünschen würden.

Aber ich überhole mich hier gerade selbst: Vielleicht ist es ja wem aufgefallen, ich hab hier schon länger nichts geschrieben. Die Schuld daran gebe ich meiner Sprachlosigkeit angesichts des täglichen Entsetzens. Ich glaube ja, das ist grundsätzlich ein guter Instinkt, aber irgendwann kann man dann auch all die im Vergleich dazu viel weniger wichtigen Dinge, die sich innerhalb des eigenen Tellerrands abspielen, nicht mehr unkommentiert lassen. Zumal am Ende ja alles irgendwie zusammenhängt.

Was zur Hölle ist „Operation Brock“?

Also, wo war ich gerade eben noch? Richtig, im Auto Richtung Fähre, zum ersten Mal auf der Route Newhaven-Dieppe. Dover hatte ich geflissentlich gemieden, weil die endlosen Staus dort für einen Kent-Bewohner comme moi schon Wochen zuvor absehbar gewesen waren. Ich hatte die einspurige, statische LKW-Kolonne auf der Autobahn M20 in Richtung des Fährenhafens vom Zug zwischen Canterbury und Dover aus immer wieder fotografiert.

Operation Brock, aus dem Zugfenster fotografiert

Robert Rotifer

„Operation Brock“ auf der M20, fotografiert aus dem Zug vor Ashford circa 40 Kilometer vor Dover

Die defätistische Verkehrslösung, eine Autobahnspur zum LKW-Parkplatz zu erklären, ist ein Phänomen, das sich vom Weltraum aus beobachten lässt, trägt aus mir unerfindlichen Gründen den durchaus lautmalerischen Namen Operation Brock und wurde eigentlich als Notlösung für die Konsequenzen eines potenziellen No-Deal-Brexit ausgeheckt.

Trotzdem darf jetzt, wo Operation Brock zur Dauerlösung geworden ist, Brrrxt und die damit einhergehenden Zollschikanen als eventuell möglicher Mitgrund in den Medien nicht erwähnt werden (auch wenn in die andere Richtung, von Frankreich nach Großbritannien, wo die Briten mangels fertigem Abfertigungssystem noch immer nicht kontrollieren, interessanterweise kein Stau zu merken war, aber pssst, ist unschick, das zu hinterfragen).

Desaster-Kapitalismus im Ärmelkanal

Nicht verschweigen ließ sich dagegen die Tatsache, dass die Fährengesellschaft P&O faktisch ihre gesamte Belegschaft gefeuert hatte, um sie – unter Ausnützung der Gesetzeslücke, dass auf dem Meer nicht der britische Mindestlohn gilt – durch eine neue, mit Dumping-Löhnen bezahlte Belegschaft zu ersetzen.

Alles, um die Shareholders, Verzeihung, die Firma zu retten, die dieser Tage dem in den Vereinigten Arabischen Emiraten basierten Konsortium DP World gehört. Dafür bezahlten nicht nur die Arbeitskräfte von P&O, sondern auch die zum Osterverkehr gestrandeten Passagier*innen. Selbst ein ruinierter Ruf geht sich aus, wenn man als Passagiers-Fährenbetreiberin quasi das Monopol für die Strecke Calais-Dover innehat.

Hier drüben hält man es auf der Linken übrigens für kontraproduktiv, darauf hinzuweisen, dass die für die Fährenarbeiter*innen zuständige Gewerkschaft RMT 2016 ihren Mitgliedern empfahl, für Brrrxt zu stimmen, weil jene sich außerhalb der EU besser vor den Effekten der Globalisierung schützen könnten. Aber euch kann ich’s ja sagen.

Stau am Grenzübergang von Portsmouth

Robert Rotifer

„Taking back control“ am Samstag bei der Rückkehr in Portsmouth: „Nach dem Einrichten schärferer Kontrollen an der Grenze müssen sie möglicherweise ein bisschen länger warten, um ins UK einzureisen“, sagt das Plakat der Grenzwache hilfreich.

Einstweilen stecken jedenfalls die meisten Fähren von P&O immer noch fest, nachdem das neue Personal von den maritimen Behörden nicht als qualifiziert anerkannt wurde. Und ich muss aus frischer Erfahrung sagen: Wer einer Fähre beim Ein- und Ausparken in den Häfen von Newhaven und Dieppe zugesehen hat, lernt die Vorteile der Routine zu schätzen. Ja, Jazz ist gut, aber nicht alles im Leben muss improvisiert und schlecht bezahlt sein.

Nachdem ich also dank der Firma DFDS auf einer nicht einmal pro forma umlackierten, alten Fähre der Firma Transmanche (Flotten kaufen und verkaufen, darum geht’s im Fährenbusiness offenbar hauptsächlich) sicher auf der anderen Seite des Kanals angelangt war, las ich in der Abendsonne der Normandie zwischen Galettes und Crêpes die News von der gerade verlassenen Insel.

Sie waren also endlich damit rausgerückt: Nach den lang herausgezögerten Ermittlungen der Metropolitan Police mussten der britische Premierminister und sein Schatzkanzler nebst zig anderen Beamt*innen in der Downing Street nun tatsächlich wegen ihrer jeweiligen Teilnahme an Partys während des Lockdowns 2020 Organstrafen zahlen (ihr erinnert euch an Partygate, auch schon eine Weile verdrängt).

Johnson im Krieg

Normalerweise (was ist normal?) ja ein Rücktrittsgrund, nicht nur wegen des Regelbruchs, sondern auch weil Johnson das eigene Parlament belogen hatte, als er letzten Herbst erklärte, man habe ihm versichert, dass in der Downing Street alle Zeit alle Covid-Regeln befolgt worden seien. Aber wenn du aus Erfahrung weißt, sie werden es auch diesmal einfach wieder aussitzen, dann investierst du auch in sowas keine große Hoffnung mehr (während ich das hier schreibe, läuft gerade die Sitzung im Unterhaus, aber egal, ich weiß ja, dass ihm nichts passieren wird bzw. ist notfalls die Formulierung „man habe ihm versichert“ sein Schlupfloch).

So erreicht man den Punkt, wo sich so Konventionen wie Nicht-offensichtlich-das-Parlament-Anlügen oder Nicht-die-Bevölkerung-zu-schamlos-für-blöd-Verkaufen ganz von selbst im Nichts auflösen. Natürlich nur unter Kooperation der medialen Öffentlichkeit, aber die hat Johnson ja bekanntlich.

Die Verteidigungslinie jetzt ist vor allem, dass man just am unausweichlichen Anbruch der größten sozialen Krise seit dem letzten Weltkrieg (werde noch darüber schreiben müssen, es wird wild) und dem Ausbruch des Dritten Weltkriegs unmöglich den Regierungschef wechseln könne. Genau, und mit derselben Begründung blieb ja damals 1940 auch Neville Chamberlain im Amt (Ja eh, Sarkasmus: Johnsons großes Vorbild Churchill löste Chamberlain acht Monate nach Kriegsbeginn ab).

Le Havre sehen und an Mariupol denken

Aber wo wir schon vom Krieg sprechen. Ich war ja wie gesagt in der Normandie und besuchte dabei mit Freund*innen die Stadt Le Havre, deren Zentrum 1944 durch britische Bombardements so gut wie völlig zerstört wurde (die deutsche Besatzung hatte Le Havre zur „Festung“ erklärt).

Modernistisches Betonhaus in Le Havre nach Plänen von Auguste Perret

Robert Rotifer

Haus in Le Havre

Es ist unmöglich, durch die nach Plänen von Auguste Perret in elegantem, modernistischem Stil in Beton wiederaufgebauten Straßen jener Stadt zu gehen und dabei nicht auch daran zu denken, was dieser Tage in Mariupol passiert.

Man mag ein blaues Transparent mit weißen Tauben und der Aufschrift „Peace not war“ derzeit für wenig politisch hilfreich halten, aber wenn man es auf einer der Fassaden von Le Havre hängen sieht, hat es trotzdem was zu sagen.

Peace Not War Transparent auf Haus in Le Havre

Robert Rotifer

Auf dem Weg entlang der teilweise zu Kultur- und Shopping-Zentren umgebauten Hafenanlagen kamen wir an einem grimmigen, mit mehreren Rollen Stacheldraht versehenen Doppelzaun vorbei, der mich gleich an die britischen Zäune an der Eurotunnel-Einfahrt in Calais erinnerte, und bingo, bei genauerer Betrachtung handelte es sich um die Hafenanlagen der in Richtung Großbritannien verkehrenden Schifffahrtsfirma Brittany Ferries. So sympathisch sieht „taking back control of our borders“ in der Praxis aus.

Stacheldrahtzaun, Britanny Ferries Le Havre

Robert Rotifer

Eiserner Vorhang: Der Zaun rund um den Ladeplatz von Britanny Ferries

Das Gegenteil vom „Wesen Gottes“

Am Tag nach unserem Spaziergang durch Le Havre las ich wieder Nachrichten aus dem Vereinigten Königreich: Die Innenministerin Priti Patel verkündete ein Abkommen, das sie gegen den Widerstand ihrer eigenen Beamt*innen im Home Office (Innenministerium) mit dem Staat Ruanda geschlossen hatte: Asylsuchende, die ohne Visum nach Großbritannien kommen, insbesondere jene, die eine Bootsfahrt über den Ärmelkanal riskieren, sollen demnach künftig in jenes zentralafrikanische Land deportiert werden. Patel ließ sich dabei auch nicht vom negativen Vorbild Israels abschrecken, das 2014-2017 schon mit demselben Plan gescheitert war. Und natürlich schon gar nicht von den internationalen Protesten, vom UNHCR bis zu sämtlichen Menschenrechtsorganisationen.

Im Gegenteil: Deren Empörung ist Teil des Plans, ihr kennt das Modell von zuhause. Die rechte Times-Kolumnistin Claire Foges schrieb dementsprechend vorgestern ganz ungeniert eine Kolumne mit dem Titel: „Rwanda wird nicht funktionieren. Aber für Johnson schon.“ Die verfrachteten Geflüchteten sollen also dafür bezahlen, dass Priti Patel Boris Johnson zuliebe einen Aufreger produziert.

So zynisch und menschenverachtend läuft der tagespolitische Diskurs heutzutage in meiner Wahlheimat, und um zum Anfang dieser Geschichte zurückzukehren - während Brit*innen sich daran erregen, dass in Frankreich die Rechtsextremen die Macht übernehmen könnten, sollten sie sich eigentlich fragen: Ist das in Großbritannien nicht schon längst passiert?

PS: Am Ostersonntagmorgen kam ich nach einer Übernachtsfahrt aus Ouistreham/Caen (auch so eine im Zweiten Weltkrieg schwer zerstörte Stadt der Normandie) in Portsmouth an. Auf dem Weg zu einem Gig in Wales hörte ich den BBC-Nachrichtensender Radio 4, beginnend mit der Direktübertragung der Osterpredigt des Erzbischofs von Canterbury Justin Welby. Er griff darin den Plan der Deportation von Asylsuchenden nach Ruanda direkt an, ja er bezeichnete die „Auslagerung unserer Verantwortung“ sogar wörtlich als „gegenteilig zum Wesen Gottes“.

In einer darauf folgenden Livesendung sagte der allseits respektierte Historiker Peter Hennessy, Großbritannien befinde sich in der „schwersten Verfassungskrise“, an die er sich erinnern könne. Boris Johnson sei nach seinen wiederholten Falschaussagen vor dem Parlament ein „der Königin unwürdiger Schurkenpremier“.

Man hört diese Säulen des Establishments sprechen und denkt sich: „Jetzt bleibt ja vielleicht doch was hängen.“ Aber dann fällt einem wieder ein: Auch die Provokation dieses Widerspruchs ist spätestens seit der Brrrxtkampagne Teil des Programms. Sie stellt sich schließlich immer gern als Gegenpol zum Establishment dar, die extreme Rechte. Selbst wenn sie in den Kleidern der britischen Konservativen regiert. Marine Le Pen könnte das nicht besser.

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