There’s always something to dance about
13 Bühnen, 160 Acts, 30.000 BesucherInnen pro Tag: Mit diesen Zahlen bewegt sich das slowakische Festivaljuwel Pohoda europaweit im mittleren Bereich. Wenn man sich auf dem ehemaligen Militärflugplatz der mittelalterlichen Stadt Trencin im Nordosten von Bratislava umsieht, fühlt sich die Ebene aber enorm an. „Pohoda ist wie eine Kleinstadt“, bestätigt eine Besucherin diesen Eindruck. Zusatz: „... in der sich alle EinwohnerInnen gut verstehen“.
Ondrej Koščík / Pohoda Festival
Weitere Sätze, die auf dem Pohoda Festival im Laufe des Wochenendes fallen:
- „Das Geld brauch ich nicht nachzählen, ich vertraue dir.“ (Betreiber des Kaffeewagerls)
- „Ich werde Russland niemals verlassen. Ich werde für immer mit meinen Aktionen weitermachen.“ (Marija Alyokhinova bei der ausführlichen Pressekonferenz zu ihrer aktuellen Performance “Riot Days by Pussy Riot Theatre”)
- „Ja, natürlich kannst du mit deinem eigenen Bier hineinspazieren.“ (Security am Eingang)
- „Popmusik schafft Communities. Sie müssen untereinander nicht unbedingt mit einer einstimmigen politischen Meinung zusammenhängen, aber gemeinsam bildet man eine Gegenkultur - zu was auch immer - und das hat für mich etwas Tröstliches.“ (Michael Spearman von Everything Everything auf meine Frage nach dem Potential des Pop, die eigene Filter Bubble zu überwinden.)
Lucia Kotrhová / Pohoda Festival
Vor dem Hintergrund nebeliger Berge wird die endlos flache Festivalzone des Pohoda zum friedlichen Hippie-Spielplatz. Die kleineren Bühnen ducken sich unter blaue Zirkuszelte. Sonnensegel beschirmen Sitzsäcke, Hängematten-Parks, Kinderspielzonen, Kunstperformances und einen Flügel, den Vorbeigehende spontan bespielen. Es wehen Fahnen, es laufen Kinder, es riecht an allen Ecken nach gebrannten Mandeln und Cashewkernen. Auf der großen Bühne probt nachmittags ein großes Orchester, in einem Zelt findet ein Folklore-Tanz-Workshop statt. Dazwischen gibt es politische Diskussionen, Filmvorführungen, und nicht zu vergessen, Musik, und zwar so viel, dass ein auch nur ansatzweiser Überblick unmöglich scheint.
Lucia Kotrhová / Pohoda Festival
Man setzt also Prioritäten. Beginnt den Freitagabend etwa bei der norwegischen Musikerin Aurora, die sich seit dem blutjungen Beginn ihrer Karriere vor drei Jahren von der ätherischen Pop-Fee hin zum strahlenden Hippie-Wirbelwind gewandelt hat. Songs wie „Running with the wolves“ spannen live schon nach wenigen Intro-Momenten ihre Flügel auf und erheben sich weltumarmend über die Hunderten glücklichen Gesichter im slowakischen Arena-Zelt. „Aurora, let’s run away together“, steht auf dem Schild eines Besuchers ganz vorne. Welches der Kasterln „Ja“, „Nein“, „Vielleicht“ sie ankreuzt, bleibt ihr Geheimnis.
Naďa Koščíková / Pohoda Festival
Die Shoegaze-Veteranen Ride müssen danach bei ihrer intensiven Show grinsend erkennen, dass niemand im Publikum ihnen die aktuellen Fußballergebnisse durchgeben kann: „They don’t care about Football at all! It’s music!“ Die folgenden Gitarrenwände fahren umso eindringlicher über die Tribünen der Budis Stage, auf denen man sich dankenswerterweise bei ausgezeichneter Sicht kurz hinsetzen kann. Der Brite Jamie Cullum gibt auf der Mainstage den Schmuseboy, Cloud-Rap-Superstar Danny Brown aus Detroit zieht dem Hip Hop US-amerikanischer Prägung mit hochgepitchter Stimme die dicken Hosen aus.
Can’t turn off what turns me on
Was dann auf der großen Bühne namens Urpiner unter der Regentschaft von Annie Clarke aka St. Vincent geschieht, ist für das Publikum so überwältigend, dass der Jubel die erste Konzerthälfte über fast schüchtern wirkt. Hier steht ein Weltstar, gleichzeitig unnahbar und zutiefst verletzlich, offensiv sexy in einem atemberaubenden roten Body und oberschenkelhohen Lackboots. Sie wechselt ihre Gitarren wie Andere die Griffe am Gitarrenhals, pink, blau, Leopardenmuster, und zwischen den Akkorden streckt sie den Arm in kämpferischer Pose zum Himmel. „I am a lot like you (boys), I am alone like you (girls)”, diese Zeilen aus ihrem aktuellen Album “Masseduction” eröffnen die Show und sind gleichermaßen Kampfansage wie Herzensangebot.
Ondrej Koščík / Pohoda Festival
Ihr Funk ist lasziv, ihr Rock abstrakt, und die Gitarrenmelodien schneiden einem in ihrer präzisen Reduziertheit tief ins Fleisch. Annie Clarke spielt sich mit ihrer Band, bestehend aus der Bassistin Toko Yasuda und zwei mit fleischfarbenen Strumpfmasken und blonden Perücken verhüllten, männlichen Musikern, durch große Teile der aktuellen Platte und vergisst auch auf alte Hits wie das ewige „Digital Witness“ nicht. Die Bühne blinkt im ausgeklügelten Lichtdesign, und über die riesigen Leinwände flimmern exakt choreografierte Visuals des Irrsinns. Annie Clarke mit türkisen Haaren, Annie Clarke als Boss, als herrisches Alien, im kunstvollen Fatsuit und mit dem Wahnsinn in den Augen. Wer angesichts von St. Vincents gewagt ausgeschnittenem Bühnen-Outfit einen Janet-Jackson-Moment fürchtete, wird dessen von den Projektionen gegen Mitte der Show überführt: Hat da wer Angst vor Brüsten gehabt? Seht her!
Ondrej Koščík / Pohoda Festival
„Die Welt ist zur Zeit völlig verrückt. But there’s always something to dance about.“ Mit diesen Worten bringt St. Vincent die etwas eingeschüchterten Verhältnisse vor der Bühne im Mittelteil doch noch zum Tanzen. Beinahe müßig zu erwähnen, dass ihre Akkorde exakt und ihre Stimme perfekt sitzen; auch strahlenden Sopran hat sie im Song „Young Lover“ locker im Programm. Pop als Performance, so wird das eines Tages im Lexikon stehen. Zum Ende hin steht Annie Clarke dann doch noch allein auf der großen Bühne, als zerbrechlicher Mensch beschützt von ihrem Instrument, und singt ihrem an die Drogen verlorenen Freund Prince Johnny ein Happy Birthday aus der Ferne.
Tomas Tkacik / Pohoda Festival
„Sugargirl, figurine, pledge all your allegiance to me“ – wenn das Martriarchat eines Tages endlich kommt, soll Annie unsere Königin sein.
Publiziert am 07.07.2018