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Demonstration am 21. Februar 2019 in Bratislava: Menschen leuchten mit ihren Handys.

APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK

Die Slowakei ein Jahr nach dem Mord am Journalisten Ján Kuciak

Der Jus-Student Juraj sieht wirklich hungrig aus. Er muss jetzt etwas essen, sagt er, bevor er einen Mobilisierungs-Spot für die Gedenkkundgebung drehen geht.

Von Lukas Tagwerker

Im Gasthaus am Platz des slowakischen Volksaufstands bestellt Juraj eine Gulaschsuppe. Während er davon erzählt, was im vergangenen Jahr passiert ist, steht die Suppe unberührt am Tisch und wird kalt. „Die Morde an Ján und seiner Verlobten haben mein Leben vollkommen verändert. Auf so etwas war niemand vorbereitet. Alle standen unter Schock. Wir fragten uns: Was können wir tun?“

Juraj organisiert mit FreundInnen große Mengen Kerzen. Aus Trauerzügen werden Protestmärsche. Am 4. März 2018 gründen sie in einer Privatwohnung Za slušné Slovensko - die überparteiliche Bewegung „Für eine anständige Slowakei“, die im vergangenen Jahr zu den größten Massenprotesten seit der Revolution von 1989 mobilisiert.

Luftaufnahme der Demonstration mit Tausenden Menschen am 21. Februar 2019 in Bratislava.

APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK

Ein Jahr nach dem Mord

Warum wurde Ján Kuciak ermordet?

Im letzten Artikel, den Ján Kuciak zu Lebzeiten veröffentlicht hat, ging es um Steuerbetrugsgeschäfte in Millionenhöhe, um den Immobilienentwickler Ladislav Bašternák und den Investor Marián Kočner. Kočner hat den Journalisten zuvor am Telefon persönlich bedroht. Dessen Anzeige bei der Polizei ist unbearbeitet geblieben.

„Ján war einer der größten Stars unter den Investigativjournalisten seiner Generation. Er war ein Meister der Datenauswertung. Kollegen anderer Medien konnten gut mit dem weiterarbeiten, was Ján herausfand“, sagt Arpád Soltész, Leiter des neu gegründeten Ján-Kuciak-Zentrums.

Kuciak ist 27 Jahre alt, arbeitet für das online-Medium aktuality.sk der deutschen Springer AG und spezialisiert sich auf Fälle von Korruption und Mehrwertsteuerbetrug.

Der handwerklich geschickte Kuciak und seine Verlobte, die Archäologin Martina Kušnírová, renovieren in ihrer Freizeit ein kleines Haus östlich von Bratislava. Die Verfliesung des Badezimmers ist fertig, im Mai will das Paar heiraten.

Kerzen und Blumen neben Fotos von Martina Kušnírová und Ján Kuciak

APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK

Am Abend des 21. Februar 2018 dringt ein ehemaliger Polizist in das Haus. Er schießt Martina Kušnírová zwischen die Augen und tötet Ján Kuciak mit zwei Kugeln in die Herzgegend. 70.000 Euro sollen der Mörder und seine Komplizen bekommen haben. Seit 27. September sitzen vier Personen deshalb in Untersuchungshaft.

Wer hat den Mord-Auftrag gegeben?

Die Beantwortung dieser Frage ist zur Schicksalsfrage der Slowakei geworden. Jáns Schwiegermutter spricht offen von einem „Mafia-Staat“. Jáns Vater Josef Kuciak:“ Die Verbindungen zwischen den Hauptverdächtigen und den wichtigsten Politikern in unserem Land sind erschreckend.“

Drei Tage nachdem die Leichen entdeckt worden sind, veröffentlicht aktuality Jáns allerletzten unfertig gebliebenen Artikel. Darin geht es um Schutzgelderpressung, EU-Agrarsubventionsbetrug, Kokainschmuggel und um die langjährigen Aktivitäten der kalabrischen ’Ndrangheta in der Slowakei.

Viliam Jasaň und Mária Trošková machen gemeinsam Geschäfte mit polizeilich gesuchten Mafiosi. Premierminister Robert Fico gibt beiden hohe Posten: Trošková wird 2015 seine persönliche Assistentin, Jasaň wird 2016 Sekretär des Staatssicherheitsrates.

Fico tritt am 14. März 2018 unter landesweiten Protesten und nach Aufforderung des Präsidenten als Premierminister zurück. Bis heute bleibt er allerdings Parteichef der weiter regierenden SMER-Partei.

Die 90er Jahre sind zurück. Die Slowakei hat sich im Kreis bewegt.

„Es ist schockierend, im Jahr 2019 erfahren zu müssen, dass diese Gruppe, die jetzt in Untersuchungshaft sitzt, sogar geplant hat, Staatsanwälte zu töten“, sagt Anca Dragu von Radio Slovakia International. „Korruption ist in der Slowakei immer ein Problem gewesen. Aber durch den Mord am Kollegen Ján Kuciak haben wir erfahren, dass etwas, das wir nur mit den 90er Jahren in Verbindung bringen, nämlich ein Land im Mafia-Stil zu regieren wie während des wilden Übergangs zum Kapitalismus nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, dass die Mafia zurück ist. Während den Ermittlungen zum Mord an Ján Kuciak ergaben sich alle Arten von Mutmaßungen gegen hohe Polizeibeamte und gegen hohe Beamte der Untersuchungsbehörden. Es war ein extrem tragisches Jahr. Die Leute, die dachten, dass die 90er Jahre vorbei sind, wachten plötzlich auf und bemerkten: Die 90er Jahre sind zurück. Die Slowakei hat sich im Kreis bewegt.“

Die EU ist alarmiert

Das Europäische Parlament hat – wie auch im Fall der ermordeten Journalistin Daphna Caruana Galizia auf Malta – eine Delegation ins Land geschickt. Drei Mal – im März, im September, und im Dezember versuchen sich die internationalen Abgeordneten ein Bild vor Ort zu machen. Findet der erste Besuch noch unter Robert Fico als Premierminister und zeitgleich mit den landesweiten Protesten statt, so hat der letzte Besuch – bei unter der Mafia leidenden Landwirten in der Ostslowakei – bereits einen anderen Charakter: Die Regierung sieht den Besuch der Delegation des Europaparlaments als Einmischung von außen.

„Von der Bevölkerung gibt es die Erwartung, dass wir als weise Ritter aus Brüssel kommen, um das Land zu retten. Genau das wird nicht stattfinden. Dazu haben wir gar keine Befugnisse. Die Lösung der Probleme muss aus dem Land selber kommen.“ sagt die Europa-Abgeordnete der CDU, Ingeborg Grässle. Für sie ist das Erbe der Sowjet-Zeit im Bereich Landbesitz das strukturelle Hauptproblem. Unklare Besitzverhältnisse machten es der slowakischen und der italienischen Mafia leicht, EU-Agrarsubventionen zu ergaunern. Es brauche deshalb eine Landreform.

Ján Kuciak kommt das Verdienst zu, die Öffentlichkeit über die systematische Erpressung der Landwirte informiert zu haben.

Investigativer Journalismus boomt

Ján Kuciak hinterlässt systematische Notizen zu seinen Recherchen. KollegInnen von zehn verschiedenen slowakischen Medien tun sich nach dem Mord zur Initiative #AllForJan zusammen und führen Jáns Arbeit fort. Das führt dazu, dass bald jedes größere Medium eine eigene Aufdecker-Abteilung gründet, der investigative Journalismus in der Slowakei boomt.

Eine Grafik zeigt Martina Kušnírová und  Ján Kuciak, daneben der Schriftzug: #AllForJan. Die Grafik ist auf das Rathaus in Bratislava projiziert.

APA/AFP/VLADIMIR SIMICEK

Das Rathaus in Bratislava, 20. Februar 2019

Anca Dragu fällt darüber hinaus eine neue Form der Solidarität unter JournalistInnen auf: Wenn Politiker bei einer Pressekonferenz Fragen von bestimmten Journalisten, die sie nicht mögen, unbeantwortet lassen, dann wiederholen andere die Frage, bis sie eine Antwort bekommen.

Während seine Gulaschsuppe kalt wird, lacht mir der Jus-Student Juraj nur ein einziges Mal in die Augen. Als er mir von einem Nebeneffekt der Polizeiverhöre erzählt. Gegen die OrganisatorInnen der Bewegung „Für eine anständige Slowakei“ wurde zwischenzeitlich wegen Hochverrats ermittelt, sie sollten ihre privaten Kontoauszüge vorweisen. Der dafür verantwortliche Polizeichef musste daraufhin zurücktreten und innerhalb von fünf Tagen landeten über 80.000 Euro an Kleinspenden auf dem Konto der Plattform. „Wenn wir unsere Angst und unser Ego überwinden, ist es wirklich erstaunlich, was wir zusammen erreichen können“, sagt Juraj.

Die Menschen, die an den Massenprotesten teilnehmen, fordern eine unabhängige Untersuchung der Morde und besseren Schutz für Journalisten. Ex-Premier Robert Fico zieht währenddessen weiterhin die Fäden in der Slowakei. Erst letzte Woche hat er sich selbst als Vorsitzenden des Verfassungsgerichtshofs vorgeschlagen. Und bei einer Pressekonferenz beschimpfte er Journalisten als „die größten Verbrecher der Welt".

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