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Scott Walker

4AD/Jamie Hawkesworth

robert rotifer

Scott Walker, 1943-2019

His ship has come in. Scott Walker, die personelle Vereinigung von Schlager und Avantgarde, die große Stimme in blue ist für immer verstummt.

Von Robert Rotifer

Nicht jetzt, alles nur nicht das und nicht jetzt. Wir sind dafür nicht stark genug, nicht in dieser Zeit, in der sie uns ohnehin schon die Scheiße um die Ohren werfen.

Die Todesmeldung warf mich weit zurück ins Jahr 1995. Wir Spätgeborene, für die wir uns damals noch hielten, hatten lange mit unserer idealisierten, mythischen Vorstellung von Scott Walker gelebt. Die Jahrzehnte hatten seine Diskographie und Biographie, soweit die uns überhaupt bekannt war (das Internet konnte sowas noch nicht und Bücher über ihn gab es auch noch keine), bereits zu seinen Gunsten neu gewichtet, insbesondere der große Lauf an Solo-Alben von „Scott“ über „Scott 2“ und 3 bis „Scott 4“ auf CD wiederveröffentlicht und verehrt, einerseits als Dokumente des Emanzipationsprozesses eines Künstlers, andererseits als Maschinen zur Reise durch Zeit und Raum, die einen verlässlich in einer Parallelwelt abzusetzen vermochten.

„It’s Raining Today“ im Auto hören (Kassette damals), und die Fahrt entlang der Wienzeile wurde zur Szene aus einem Arthouse Movie. „Boy Child“ bei abgedrehtem Licht auflegen, und der eigene Körper wog nur halb so viel. Und dann kam 1995 „Tilt“ in unser Leben.

Scott war in unsere Welt hinabgestiegen und hatte uns dieses rätselhafte Album geschenkt, das uns Phrasen wie „Oh the Luzerner Zeitung never sold out“ und „Lemon Bloody Cola“ in den Kopf setzte und in einer Zeit, wo alles wieder Pop Pop Pop sein wollte, Worte wie „experimentell“ rehabilitiert.

Kollege Maik Brüggemeyer hat heute zum traurigen Anlass einen Mitschnitt aus Jools Hollands Show ausgegraben, in dem Scott allein mit der Telecaster eine wunderschöne Version von „Rosary“ spielt.

Und natürlich musste ich daraufhin das Album hervorholen und mich über mein jüngeres Ich wundern, weil das, was damals sonderbar klang, die Dekonstruktionen von Text und Musik, die Cut-Up-Willkür, der absurde Humor, aus der Entfernung doch so gänzlich schlüssig wirkt (ein ähnliches Gefühl wie neulich beim Wiedereintauchen in Mark Hollis’ einst befremdendes Spätwerk). Zu jener Zeit wies mir mein Freund Ric auch den Weg zu „Climate of Hunter“, dem lange vergessenen Album aus dem Jahr 1983, das mich sogar Mark Knopfler mit anderen Ohren hören ließ („Blanket Roll Blues“!).

The angels of ashes will give back your passions

Vor allem aber erinnere ich mich an die Features damals in der Musikpresse, voll des Erstaunens darüber, dass dieser Mann auf dem Fahrrad mit Baseball-Kappe und Sonnenbrille tatsächlich Scott Walker sein konnte. Er war die ganze Zeit unter uns gewesen, und wir hätten ihn nie erkannt. Das war eine Entmystifizierung der besten Art, die kulminierte mit dem Londoner Meltdown-Festival, das er 2000 kuratierte. Wo er Blur, Radiohead und Smog spielen ließ, aber auch Didi Bruckmayrs Linzer Band Fuckhead, von der vewunderten, anglozentrischen Presse verstört als „bizarrer deutscher Industrial-Act“ bezeichnet.

2006 dankte Walker Fuckhead auf „The Drift“ nebst Chris Sharp, der ihm als MD von 4AD künstlerische Ermutigung und Unterstützung angedeihen hatte lassen, und Jarvis Cocker. Ich hatte über die Jahre glatt vergessen, dass Scott Walker in jenen geselligen Tagen sogar das positivistische Post-Comedown-Pulp-Album „We Love Life“ produzierte.

Und jetzt nach der Todesnachricht ist es wieder da, dieses Gefühl von 1995, nur umgekehrt: Es ergibt eine bittere Art von Sinn, dass Scott Walker nicht mehr die Straßen Londons heimsucht, dass er sich von uns verabschiedet hat, wo unsere Welt eine geworden ist, die seine Anwesenheit schlicht nicht mehr verdient.

Scott Engel, wie er wirklich hieß, war Mitte der Sechzigerjahre als einer der Walker Brothers den umgekehrten Weg der British Invasion nach Lonodon gegangen. Sie waren keine Brüder, die drei. John Joseph Maus hatte, schon bevor sie zusammen kamen, als erster das Pseudonym Walker gewählt, der dritte von ihnen, Gary Walker, eigentlich Gary Leeds, hatte davor bei den Garage-Beat-Pionieren Standells gespielt und für den Rest der Band die Flug-Tickets nach London bezahlt.

Dort angekommen wurden die Walker Brothers, nicht zuletzt weil sie so unverschämt gut aussahen und ihr Haar besser trugen als die Beatles, schnell zu Teenager-Idolen, vor allem aber, weil die ihnen von ihrem Produzent Johnny Franz verpassten Streicher-Arrangements im Verein mit Scotts voluminösem Bariton eine unglaubliche, dramatische Intensität vermittelten. Von „Love Her“ über „Make it Easy on Yourself“ und „My Ship is Coming in“ bis hin zum orchestralen Orgasmus von „The Sun Ain’t Gonna Shine Anymore“. Alles Lieder, die die Welt immer noch dringend braucht, selbst wenn Scott sich von ihnen distanzierte und in ein Kloster auf der Isle of Wight floh, um dort das gregorianische Chorsingen zu lernen (nichts da mit Indien oder San Francisco).

Der bereits erwähnte Reigen seiner nach der Rückkehr aus der selbstgewählten Isolation zwischen 1967 und 1969 entstandenen ersten vier Solo-Alben markierte – ungeachtet negativer kommerzieller Konsequenzen – eine alternative Route zum vorherrschenden Zeitgeist. Während andere in Richtung der „authentischen“ Amerikanismen des härter werdenden Rock drängten, fand der in Hamilton, Ohio, aufgewachsene Scott seine künstlerischen Verwandschaften im Werk des Belgiers Jacques Brél, von „Mathilde“ über „Amsterdam“ bis zur melodramatisch makabren Düsternis von „My Death“ (die letzteren beiden nicht zufällig auch von David Bowie gecovert, der sich damals von Scott Walker einiges beibringen ließ und nicht zufällig 2008 die Walker-Doku „30 Century Man“ finanzierte).

Parallel dazu erkämpfte er sich Album um Album seine Rolle als Songwriter mit Meisterwerken wie „Montague Terrace (in Blue)“ (auf „Scott“) oder dem alle konventionelle Songstrukturen verwerfenden „Plastic Palace People“ (auf „Scott 2“) bis zu Scott 3, das bis auf drei Brél-Übersetzungen bereits vollständig von S. Engel geschrieben war.

Auf das Kompromissalbum „Til The Band Comes In“ folgte die Phase des Musizierens für Alkohol- und Wohnungskosten, dann die Reunion der Walker Brothers in den Mittsiebzigern, die immerhin Höhepunkte wie das großartige Cover von Tom Rushs „No Regrets“, so wie „The Electrician“, ein Lied über den Arbeitsalltag eines Folterknechts der CIA, hervorbrachte.

Danach tauchte Walker nur mehr aus der Versenkung auf, wenn er Dringendes zu sagen hatte. „Climate of Hunter“ (1984), „Tilt“ (1995), sein Soundtrack zu „Pola X“ (1999), „The Drift“ (2006) sein gefeiertes letztes Studioalbum „Bish Bosch“ („bish bash bosh“ heißt so viel wie „ruck zuck“), das er damals schon als Ende eines Zyklus sah, und danach noch eine Kollaboration mit Sunn O))) namens “Soused” und zwei weitere Scores (“The Childhood of a Leader” und “Vox Lux”).

So wie neulich bei Mark Hollis hat man das sichere Gefühl, dass da einer sein Lebenswerk abgerundet hat, bevor er gehen musste. Das ist unser Trost und Privileg.

Stampede
by my old
jacket
in the dark

Someday
I’ll pick it
up
look for the
maker and
whisper

Tilt

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