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Die alte Isolation und das Meer in John Lanchesters „Die Mauer“

John Lanchester beschreibt in seinem Roman „Die Mauer“ weit mehr als Großbritannien auf dem Weg in die Abschottung.

Von Thomas Edlinger

Und ewig grüßt das Murmeltier. Augen auf, und schon poppt wieder eine Nachricht zum Brexit auf. Natürlich wurde wieder No! zu allem gesagt. Und wieder einmal geht alles in die Verlängerung der Verlängerung. Manche Kommentatorinnen wünschen sich schon lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, und auf der Insel liebäugeln Hardliner mit den segensreichen Entbehrungen der heroischen Kriegszeiten, als die britische Trutzburg gegen Nazideutschland verteidigt wurde.

Roman "Die Mauer" von John Lanchester Buchcover

Klett-Cotta

Der Roman „Die Mauer“ von John Lanchester ist im Klett-Cotta Verlag erschienen und wurde von Dorothee Merkel aus dem Englischen übersetzt.

John Lanchester, geboren in Hamburg, Redakteur der renommierten London Review Of Books und Autor vielbeachteter Bücher wie Kapital, hat die Mischung aus Empire-Nostalgie und starrsinnigem Exzeptionalismus mit globalen Entwicklungen kurzgeschlossen. Die Reaktion auf die Renaissance der Splendid Isolation trifft in seinem Roman auf die heißen Eisen der Gegenwart: Klimawandel und Migration.

Wir gegen die

Der Roman heißt Die Mauer. Die neue Mauer steht weder an der Grenze der USA zu Mexiko noch zwischen den beiden Koreas oder wie früher zwischen den beiden Deutschlands, sondern schließt die Festung Großbritannien vom Rest der Welt nach dem großen (Klima-)Wandel ab. Sie ist 10.000 Kilometer lang und wird von jungen Einsatzkräften, den „Verteidigern“, überwacht. Der Druck auf die zwei Jahre im Dienst Stehenden ist groß. Sollte es trotz Schießbefehls ausnahmsweise einmal eine gewisse Anzahl von „Anderen“ den Grenzübertritt über die Mauer schaffen, wird die gleiche Zahl an Verteidigern im offenen Meer ausgesetzt.

Auch die Eindringlinge erwarten unmenschliche Zustände in einem Land, das sein Volk durch implantierte Chips markiert. Die Geflüchteten werden als „Dienstlinge“ versklavt oder eingeschläfert. Die Mauer ist ein großer Gleichmacher, sie schweißt ihre BewacherInnen zusammen. Frauen und Männer schieben in Unisex-Uniformen Dienst. Man spricht knapp und deutlich, ohne Dialekt. Diese standardisierte Welt hat den identitätspolitischen Pluralismus hinter sich gelassen und wärmt grobe Zugehörigkeitsfantasien wieder auf: wir gegen die. Der Feind und niemand sonst definiert, wer wir sind. Ist das sehr weit weg von dem Zustand, den wir schon jetzt kennen?

Kein Schlüsselbuch zum Brexit

John Lanchester erzählt schnörkellos. Die Mauer ist kalt, die Nächte sind noch kälter. Nur heillose OptimistInnen wie die „Fortpflanzler“ denken überhaupt noch an Kinder. So beschreibt es der junge Ich-Erzähler Joseph Kavanagh, nachdem er zur Grenze abkommandiert wird und bald neue Bande knüpft, besonders mit der jungen Verteidigerin Hifa. In seinen Selbstreflexionen widmet sich Joseph vor allem der Gewöhnung an die Extremerfahrungen von Kälte, Tod und Hunger, und schließlich auch an die ambivalent empfundene Entfremdung von einem Leben, das nicht so klar umrissen war wie nun an der Grenze zwischen drinnen und draußen. Deutlich wird das beim Heimaturlaub im Elternhaus. Mit der Elterngeneration haben die Jungen ohnehin gebrochen wie einst die 68er mit den Alten. Schließlich haben die Alten Schuld durch ihre Politik und ihren ökologischen Fußabdruck auf sich geladen, die sie jetzt hinter falscher Fürsorglichkeit tarnen.

Draußen im grenzenlosen Meer, im Schutz der Wellen und Wolken, lauert die Gefahr. Der Anstieg des Meeresspiegels hat, ähnlich wie in Omar El Akkads Roman American War von 2017, den tipping point überschritten. Viele Landstriche sind unbewohnbar, die Strände sind versunken und immer mehr Verzweifelte steigen in Boote und Schiffe und nehmen Kurs Großbritannien. Nähere Angaben finden sich nicht, und so bleiben auch gesellschaftspolitischen Verweise recht allgemein. Sie beziehen sich beispielsweise auf verhärtete Eliten und Populisten auf der Insel, doch fassbare Ideologien oder politische Programme spielen keine Rolle. Nein, Die Mauer ist nicht das Schlüsselbuch zum Brexit. Zum Glück.

Existentialistischer Stresstest

Lanchester erzählt nämlich nicht die konkreten Abschottungspolitik Europas und die ermüdende Selbstdemontage der politischen Klasse in London nach, sondern entfaltet vor deren Hintergrund einen existentialistischen Stresstest. Er interessiert sich vor allem für die Auswirkungen von Entbehrungen auf das Empfinden seines Helden. Was machen das Warten, die Nacht, der Hunger, die Angst, die Weite des Meeres und die Gewalt mit einem, der Menschen abwehren und zugleich auf andere angewiesen ist? Später schreibt Lanchester, ganz ohne metaphorische Überfrachtung, über die Erschöpfung und die Leiter nach oben. Dort wartet ein Mensch und nicht nichts.

Die Mauer ist einerseits ein ökonomisch und routiniert erzählter, spannender Pageturner über eine Odyssee nach dem Ende unserer Weltordnung. Zugleich fragt der Roman auf wohltuend schlichte Weise nach dem Verhalten vom Menschen, das nicht automatisch in die in diversen Dystopien schon ausgereizte postapokalyptische Barbarei des „Jeder gegen Jeden“ zurückfällt. Denn diesseits und jenseits der Mauer werden in der Not neue Formen des Miteinanders erzwungen; und neben dem Schweigen über den Schrecken erscheint auch so etwas Kaputtgelebtes und Kaputtgeredetes wie die Liebe als wechselseitiger Trost von gestrandeten Bedürftigen möglich.

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