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Schüler*innen

Goran Basic. Aus: GymiZyte, 2020 © NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel

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„#Gymizyte“: Was vier Jahre Schule mit dir machen

Drei Journalist*innen von der NZZ haben eine Zürcher Schulklasse vier Jahre lang bis zur Matura begleitet. Die Langzeit-Reportage „#GymiZyte“ ist nun als Buch erschienen. Sie zeigt, wie wir uns in der Pubertät verändern.

Von Felix Diewald

17. August 2015. Es ist 7:50 und in der Zürcher Kantonsschule Enge beginnt die Klasse W1a gerade ihren ersten Schultag. Von Anfang an mit dabei sind die beiden Journalist*innen Katrin Schregenberger, Tobias Ochsenbein sowie der Fotograf Goran Basic. Einer der Schüler, Mattia, 15, sagt im ersten Interview, er gehe aufs Gymnasium, „weil ich in 20 Jahren ein wohlhabender Familienvater sein will.“ Vier Jahre später, nach erfolgreichem Schulabschluss, wird dieser Mattia etwas ganz Anderes sagen.

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Goran Basic. Aus: GymiZyte, 2020 © NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel

Multimediale Langzeit-Reportage jetzt als Buch

Vier Jahre Zeit für eine Reportage. Das ist im Journalismus außergewöhnlich lange. Dementsprechend ernteten die Reporter*innen auch skeptische Blicke, als sie diese Idee in der NZZ-Redaktion vorschlugen: „#GymiZyte“ (Auf Hochdeutsch in etwa: Zeit am Gymnasium), eine multimediale Langzeit-Reportage, die der Frage nachgehen soll, was es heißt, heute in die Schule zu gehen. Doch man ließ die drei einfach mal machen.

Buchcover von #Gymizyte

NZZ Libro

„#GymiZyte Was es heisst, heute in die Schule zu gehen“ von Katrin Schregenberger, Tobias Ochsenbein und Goran Basic ist 2020 bei NZZ Libro erschienen.

Regelmäßig veröffentlichten sie online und im Print Updates der 9 Protagonist*innen aus der Zürcher Schule, die sie journalistisch begleiteten. Interessierte konnten sich über einen Newsletter für das Real-Time-Reportage-Projekt anmelden und den Jugendlichen beim Erwachsenwerden zusehen. Heute, rund fünf Jahre später, ist das Projekt abgeschlossen, die Schule ist vorbei und die Langzeit-Reportage als Buch erschienen.

Schauen, nicht werten

Die Veränderung, die Menschen von 14 bis 18 durchmachen, wird in #GymiZyte eindrucksvoll festgehalten. Das Buch ist eine 211-seitige Reportage, die beobachtet, beschreibt, aber nicht wertet. Beim Lesen fühlt man sich mitunter, als säße man selbst mit den 22 Schüler*innen im verglasten Klassenzimmer W2a, Kantonsschule Enge.

Neu Kleider, neue Schuhe sieht man viele an diesem Tag. Der Start in ein neues Leben, eine neue Klasse, die Möglichkeit, eine neue Identität anzunehmen. Die Stimmung ist fröhlich. „Stay weird“, verkündet eine Schülerin über ihr Top. Doch vieles wird sich in diesen vier Jahren verändern.

Schüler*innen

Goran Basic. Aus: GymiZyte, 2020 © NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel

Unterricht, Schullandwoche, Ferien

Die Journalist*innen haben für das Projekt von Schule, Eltern und den Schüler*innen selbst größtmöglichen Zugang bekommen. Sie waren mit Mikrofon und Kamera mit den Jugendlichen in der Schulklasse beim Unterricht dabei, aber auch bei informellen, prägenden Erlebnissen, auf Schullandwoche zum Beispiel, abends am Zürisee oder in den Ferien.

David, 16 Jahre alt, die blonden Haare an den Seiten kurz rasiert, einen sauberen Side-Cut, trägt Adidas-Sneaker und ein weißes T-Shirt, hält einen Döner in der Hand und genießt gerade seine ersten Herbstferientage.

Seltener dokumentarischer Einblick

Private Beobachtungen mit Jugendlichen, in denen es auch um Gefühle, Ängste, Intimes geht sind – Datenschutz, Jugendschutz – im Journalismus im Gegensatz zur Literatur schwer umzusetzen. Den 9 Protagonist*innen ist es hoch anzurechnen, dass sie bei diesem Projekt mitgemacht haben. Man denke an die eigene Pubertät. Es ist sicher nicht einfach, ständig drei Erwachsene dabeizuhaben, die viel von dem dokumentieren, was du machst und sagst.

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Goran Basic. Aus: GymiZyte, 2020 © NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel

Karrierist*innen und Klima-Demonstrant*innen

Von Kapitel zu Kapitel wird deutlich, wie viel sich in den vier Jahren bei den Jugendlichen verändert. Einige verlassen die Klasse und die schulische Ausbildung, denn nicht alle können mit dem Leistungsdruck umgehen. Und manche werden innerhalb von vier Jahren von idealistischen Jugendlichen zu ehrgeizigen Karriere-Youngsters. Oder umgekehrt. Wie Mattia, der anfangs noch verkündete, am Gymnasium zu sein um später ein wohlhabender Familienvater zu werden und sich am Ende seiner Schullaufbahn in der Polit-Aktivisten-Bubble befindet.

Politik & Konsum

„#GymiZyte“ ist in seiner Aktualität (die Schüler*innen machten erst vergangenes Jahr ihr „Matur“) für das Buchformat nah dran am Zeitgeschehen. Jugendbewegungen wie Fridays for Future, so kann man nachlesen, sorgten in der Klasse dafür, dass es in Diskussionen nicht mehr nur um Sneaker und Videospiele ging. Das Buch zeigt auch, dass es kein Widerspruch sein muss, wenn Wohlstandskinder in Designer-Kleidung für ein Dorf in Malawi Geld sammeln und sich Gedanken über eine gerechte Welt und faire Arbeitsbedingungen machen. Es ist kein neuer Befund, aber die aktuelle Generation Teenager ist deutlich politischer als jene davor.

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Goran Basic. Aus: GymiZyte, 2020 © NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel

Privilegierter Soziotop

Ohne Zweifel handelt es sich bei der untersuchten Gruppe Jugendlicher um eine privilegierte Schicht (Gymnasium) in einem der reichsten Länder der Welt (Schweiz). Das limitiert die generelle Aussagekraft der soziologischen Beobachtungen. Allerdings ist der Auftraggeber, die NZZ, eine bürgerliche Zeitung mit wohlhabender Leserschaft. Dass sich dieses Soziotop auch in der Reportage wiederfindet, ist demnach ein wirtschaftlich (vier Jahre Reportage kosten Geld), als auch publizistisch (es soll die NZZ-Leser*innen ja auch „abholen“) logischer Move. Und: so stark unterscheidet sich die Welt der Zürcher Kids aus der Reportage nicht mit der Realität in Gymnasien der österreichischen Landeshauptstädte.

4 Jahre 4 Fotos

„#Gymizyte“ folgt einer chronologischen Erzählweise. Immer wieder werden größere Themen wie erste Liebe, Smartphones und digitale Kommunikation oder Karriere aufgemacht und dienen als zusätzliche Haltepunkte. Visuell eindrücklich von Goran Basic eingefangen, kann man den Jugendlichen auch in jährlich angefertigten Portraits auch äußerlich beim Älterwerden zuschauen.

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Goran Basic. Aus: GymiZyte, 2020 © NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel

Wer ist konservativ? Wer ist links?

Je näher „das Matur“ und die Abschlussprüfungen kommen, desto deutlicher treten bei den Zürcher Jugendlichen die eigenständigen Persönlichkeiten hervor. Wer ist eher konservativ? Wer eher links? Wer ist eher ernst? Wer denkt nicht zu weit in die Zukunft? Und wer sucht seine Gleichgesinnten eher außerhalb der Schule und wem ist der Klassenzusammenhalt wichtiger? Je weiter man liest, desto reflektierter und spannender werden die Aussagen der Jugendlichen, wenngleich sie auch berechnender werden und naturgemäß die Unbedarftheit der ersten Jahre ablegen.

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Goran Basic. Aus: GymiZyte, 2020 © NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe, Basel

Neuer Erzähl-Ansatz beim Thema Bildung

Wenn in Österreich über Bildung diskutiert wird, kommen selten jene zu Wort, die es eigentlich betrifft. Da reden Politiker von Flügeln, die gehoben werden müssen, Journalisten werden Schuldirektoren und Lehrerinnen schreiben marktschreierische Sachbücher. #GymiZyte lässt hingegen die Schüler*innen zu Wort kommen. Man kann ihnen ruhig zuhören. Auch in Österreich.

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