FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Neue Album von Depeche Mode "Memento Mori"

Anton Corbijn

Depeche Mode trauern sich aus der Routine

„Memento Mori“ ist das erste Depeche Mode Album seit dem Tod von Gründungsmitglied Andrew Fletcher. Die Trauerarbeit hat Dave Gahan und Martin Gore zu einem kreativen Höhenflug verholfen.

Von Christian Lehner

Jeder Tod ist ein Neubeginn. So wollen es die Weltreligionen, so will es der zum Sinnspruch gefrorene Überlebenswille des Menschen. Es muss weitergehen, damit es weitergehen kann. Bei Depeche Mode und ihrem neuen Album „Memento Mori“ ist es ein ganzer Tod und ein halber Neubeginn. Als im vergangenen Mai die Todesnachricht von Andrew Fletcher die Runde machte, fürchteten viele Fans um den Fortbestand ihrer Lieblingsband.

Das Gründungsmitglied Fletcher hatte eine besondere Rolle bei Depeche Mode. Musikalisch fiel der Keyboarder kaum auf, doch er funktionierte als eine Art Puffer, Übersetzer und Mediator zwischen den verfeindeten Kreativpolen in der Gestalt des Musikverantwortlichen Martin Gore und des Sängers und Image-Trägers Dave Gahan, die dem Vernehmen nach seit Jahren privat kein Wort mehr miteinander gesprochen hatten.

Im Oktober letzten Jahres dann die Entscheidung. In der heimlichen Depeche Mode-Hauptstadt Berlin, dort wo selbst Hippies Schwarz tragen und der Frühling grau ist, wurde im Rahmen einer groß angelegten Pressekonferenz mit Fan-Beteiligung verkündet, was ohnehin alle ahnten: Depeche Mode machen weiter. Was soll man auch sonst tun, wenn man kurz vor der Rock’n’Roll-Pensionierung über eines der letzten funktionierenden Millionenvehikel im Pop verfügt?

The show must go on

Depeche Mode haben bei gut 100 Millionen verkauften Tonträgern vermutlich aufgehört zu zählen. Es gibt sie seit über 40 Jahren. Die aus einem Kaff nördlich von London stammende Band hat Moden geprägt (New Wave, Synth-Pop) und sich von Moden prägen lassen (Alt-Rock, Techno). Depeche Mode hatten ihre Gott-sei-bei-uns-Momente und Nahtod-Erfahrungen. Sie hatten den Gospel und Blues, die Farbe Schwarz, den Ästhetik-Chef Anton Crobijn und die ewigen Themen Tod, Sünde und Sühne. Und sie hatten ihre Fans, die mitalterten und ihnen bis heute die Treue halten.

Neue Album von Depeche Mode "Memento Mori"

Anton Corbijn

Depeche Mode 2023: Martin Gore (l und Dave Gahan (r)

Wie die Generationskollegen von U2 oder The Cure haben sich auch Depeche Mode längst der Verwaltung ihres eigenen Erbes verschrieben. Das heißt in der Regel, die Alben werden belangloser, die Stadiontouren mit jeder Runde pompöser und einträglicher. Vom Dachterrassen-Pool einer luxuriösen Innenstadtburg aus macht man sich Gedanken über den Lauf der Dinge, entdeckt sein politisches Gewissen wie am letzten Album „Spirit“, das vor sechs Jahren erschienen ist, und wartet auf den Anruf des Managers, um in den Privat-Jet zu klettern und erneut den beschwerlichen Weg around the world anzutreten.

Tod in der Kunst, Tod im Leben

Und dann kommt der Tod und bricht die Routine. Wer weiß, wäre Fletschers Halsschlagader nicht gerissen, würde man sich vielleicht über ein ähnlich monströses Machwerk wie das soeben erschienene Album „Songs Of Surrender“ von U2 ärgern. Aber das neue Depeche Mode Album ist trotz seiner morbiden Thematik äußerst lebendig.

Neue Album von Depeche Mode "Memento Mori"

Sony Music

Album-Cover „Memento Mori“ (Sony Rec)

„Memento Mori“ ist das 15. Studioalbum der Synth-Band. Der Spruch stammt aus der römischen Antike. Der Kranzhalter – üblicherweise ein Sklave - flüsterte diese Worte dem siegreichen Feldherren beim Triumphzug zu, sodass sich dieser nicht mit einem Gott verwechseln möge: „Gedenke des Todes, sei dir deiner Sterblichkeit bewusst!“.

Die Themen der Album-Songs drehen sich entsprechend um die Vergänglichkeit des Lebens und die damit einhergehende Sinnsuche. Bei der Pressekonferenz im Oktober in Berlin erklärte Martin Gore, dass man aus dem Titel aber auch das Gegenteil ableiten könne: „Wenn wir schon dem Tod geweiht sind, dann lasst und das Leben nutzen.“ Carpe diem!

Was sich nun als ein vom Schicksal diktiertes Requiem für einen Freund und ehemaligen Mitstreiter darstellt, ist keines. Zumindest nicht ganz, denn Konzept, Titel und Songs standen bereits vor dem Ableben Fletschers fest. Das Album war geschrieben, die Studiozeit gebucht. Die Platte musste nur noch aufgenommen und produziert werden. Die Tatsache, dass das Material für das Album bereits vorhanden war und dass sich darin auch Fletchers Spuren hineinprojizieren ließen, erleichterte vermutlich die Entscheidung, Depeche Mode als Duo weiterzuführen.

Es ist dann auch weniger der Inhalt der Songs, der dieses Album zum besten seit „Ultra“ (1997) macht, sondern das unterkühlt überbordende Depeche Mode-FEELING, das sich nach Jahren der blutarmen Routine auf „Memento Mori“ wieder einstellt. Da ist sie wieder, die in Leder eingefasste Gänsehaut, wenn Dave Gahan in der ersten Single „Ghosts Again“ anhebt: „Heaven’s dreaming / Thoughtless thoughts, my friends / We know we’ll be ghosts again.“

FM4 Musikpodcast: Depeche Mode: where to start?

Sind Depeche Mode die unterschätzteste Mainstreamband der Welt? Darüber reden David Pfister und Christoph Sepin anlässlich des neuen Albums „Memento Mori“. Plus: liebste Depeche Mode-Momente, Erinnerungen an Gespräche mit Dave Gahan, essenzielle Alben der Band und ob man sich Depeche Mode im Jahr 2023 noch live anschauen sollte. Jetzt Im FM4 Musikpodcast, überall wo es Podcasts gibt.

In Memorian Andrew Fletcher

Man spürt, wie sich angesichts der Tragik der Ereignisse, Martin Gore und Dave Gahan im Studio näher gekommen sein müssen. Die Songs entfalten sich langsam, das Tempo ist down, die Stimmung feierlich. Man meint fast die Kerzen flackern zu hören. Im Song „Don’t Say You Love Me“ wird das Verhältnis der beiden Verbliebenen mit Zeilen wie „I am the singer, you are the song“ gefeiert, auch wenn sich das Stück vordergründig als Absage darstellt.

Man erkennt sich gegenseitig an, würdigt des anderen Leistung ganz im Sinne des Mediators Fletcher. Auch wenn diese Zeilen bereits vor dessen Ableben geschrieben wurden, ist es die Art und Weise, wie der Song arrangiert und aufgenommen wurde, die es zu einer Hommage an den Verstorbenen macht und den Zusammenhalt von Depeche Mode beschwört. So wurde aus einem Post-Corona-Album etwas viel Größeres.

Erstmals holte Martin Gore mit Richard Butler (Psychedelic Furs) einen Co-Writer an Bord. Und es sind nicht die schlechtesten vier Songs. Im Gegenteil: „Ghosts Again“, „Don’t Say You Love Me“, „My Favorite Stranger” und “Caroline’s Monkey” schließen an die große Song-Phase von Depeche Mode Anfang der Neunzigerjahre an.

Im Juli live in Klagenfurt

„My Cosmos Is Mine“ ist ein düsterer Einstieg in das Album. Inspiriert vom Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, senden Depeche Mode verstörende akustische Risse und Distortion-Drums als Vorhut. Eine Stranger-Things-Synthline führt uns gefühlsmäßig zurück in die Zeit des Kalten Krieges. Gaham warnt: “Don’t play with my world /Don’t mess with my mind”, Gore gibt den Gefangenenchor: “No war, no war, no war”.

Mit “Wagging Tongue” gibt es überhaupt erst den zweiten Song in der Bandkarriere, der von Gore und Gahan gemeinsam geschrieben wurde. Als Produzent saß, wie beim Vorgänger „Spirit“, James Ford (Semian Mobile Disco) an den Reglern. Unterstützung erhielt er von der italienischen Toningenieurin Marta Salogni. Gemeinsam mit Gore gelang den beiden eine Restauration des New-Wave-und Gitarren-Sounds der ersten zwei Depeche Mode-Phasen. Zentrale, sich windende Motive, bestimmen die Richtung der Songs. Im Unterdeck zischt, pfeift und krächzt es, wie in einem alten Überseedampfer. Die Moderne meldet sich zurück und sie steht ihnen noch immer gut.

Das Album ist ohnehin voller Depeche Mode-Easter-Eggs. Die Songtitel „Don’t Say You Love Me” oder „Never Let Me Go“ kennt man doch aus einem anderen Zusammenhang. Ebenso „People Are Good“. So schließt sich ein Kreis, der mit dem Ende aller Dinge begann. „Memento Mori“ ist in erster Linien ein in schwarzes Blut getauchtes Referenzwerk für Depeche Mode-Fans. Es ist eine würdige Hommage für einen, der kaum Spuren hinterlassen hat im musikalischen OEuvre der Band, dessen Geist aber über den Tod hinaus alles zusammenzuhalten scheint.

Am 21. Juli spielen Depeche Mode in Klagenfurt ihr einziges Österreich-Konzert in diesem Jahr.

mehr Musik:

Aktuell: