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Boot mit geflüchteten Menschen am Weg zum Strand, dort Berge an Rettungswesten

Angelos TZORTZINIS / AFP

Neue EU-Asylregelungen: Menschenrechtsverachtung wird normalisiert

Die 27 EU-Innenminister*innen haben letzte Woche über neue Asylregelungen abgestimmt. Weil die jetzt erst im Europäischen Parlament besprochen werden müssen, dauert es noch, bis die Details feststehen. Migrationsforscherin Judith Kohlenberger sieht viele Probleme beim aktuellen Vorschlag.

Von Siri Malmborg

Seit Jahren versucht die EU schon, einen Kompromiss in der Asylpolitik zu finden. Dementsprechend wurde die Einigung der Innenminister*innen auf neue gemeinsame Regelungen als „Durchbruch“ bezeichnet. Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger von der Wirtschaftsuniversität Wien fragt sich, ob der Vorschlag nicht eher ein asylpolitischer Dammbruch ist.

Es ging bei der Abstimmung einerseits um die Einigung zur Verteilung geflüchteter Menschen innerhalb der EU und um die Vorprüfung der Aufnahmechancen der geflüchteten Menschen an den EU-Außengrenzen. Vieles von dem, worüber die Innenminister*innen der EU-Mitgliedsstaaten da abgestimmt haben, ist eigentlich schon Realität, sagt Judith Kohlenberger. Was wirklich neu ist, ist laut Kohlenberger die Diskursverschiebung nach rechts.

Verschärfungen anstatt von Menschenrechten

„Der gesamte Asyldiskurs hat sich innerhalb der EU stark nach rechts verschoben. Wir lesen jetzt Statements von diversen Innenministern zu ‚scharfen Verfahren‘, was auch immer das bedeuten soll. Es geht nicht mehr um Fairness im Verfahren, um Rechtstaatlichkeit und um Menschenrechte, sondern um eine Verschärfung“, sagt Judith Kohlenberger. So hat etwa auch der österreichische Innenminister Gerhard Karner nach der Abstimmung letzte Woche von Verschärfungen gesprochen: „Ja, es ist heute nach intensiven, harten, zähen Verhandlungen ein weiterer wichtiger Schritt gelungen, für ein strengeres, auch manchmal schärferes, auf ein gerechteres Asylsystem.“

Mehr Morias befürchtet

Judith Kohlenberger

Christian Lendl

Migrationsforscherin Judith Kohlenberger

Verkündet wurde, dass Menschen aus Ländern mit geringen Aufnahmechancen schon an den EU-Außengrenzen abgesondert und abgewiesen werden sollen - bevor sie überhaupt die Möglichkeit haben, einen rechtsstaatlichen Antrag zu stellen. Das wird als „Grenzverfahren“ bezeichnet und ist eigentlich kein Verfahren, sondern nur eine Vorprüfung der Aufnahmechancen. Judith Kohlenberger sieht die als „grundrechtlich sehr problematisch, weil das Recht auf Asylantragsstellung, das Recht auf ein faires Verfahren, ist ein Kernelement des geltenden Asylrechts. Und das wird durch diesen Vorschlag ausgehöhlt.“

Hinzu kommt, dass man Menschen nicht pauschal anhand ihres Herkunftslandes den Zugang zur Asylantragsstellung verweigern könne, sagt Judith Kohlenberger. Denn selbst, wenn jemand aus einem Land mit niedriger Aufnahmechance komme, kann es immer noch sein, dass die Person dort wegen ihrer sexuellen Ausrichtung oder religiösen Zugehörigkeit verfolgt wird. „Die hätten sehr wohl einen Asylgrund, auch wenn die große Masse keinen Asylgrund hat. Und deshalb ist es ganz, ganz wichtig, auf eine Einzelfallprüfung zu pochen. Das wird durch diesen Vorschlag der ‚Grenzverfahren‘ untergraben.“

Bis die abgesonderten Menschen in ihre Herkunftsländer zurück geschickt werden können, sollen sie unter „haftähnlichen Bedingungen“ untergebracht werden. Judith Kohlenberger: „Wir nehmen das als gegeben und als normal hin, dass schutzsuchende Männer, Frauen und Kinder über Wochen hinweg inhaftiert werden. Das ist eigentlich ein Zustand, den man sich nicht wünschen kann für ein Europa im Jahr 2023. Und das soll aber bittere Realität werden.“ Sie vermutet einen massiven Rückstau in diesen Lagern an den EU-Außengrenzen und mehr Bilder wie aus dem überfüllten, letztlich abgebrannten Lager Moria in Griechenland.

Migrationsfrage wird instrumentalisiert

Die EU setzt weiterhin auf Abschottung, Abschreckung und Auslagerung, so Judith Kohlenberger. Es wird das Argument gebracht, mit dem Abfangen der Menschen an den Außengrenzen könne Leid vermieden werden. Dabei zeigt die Migrationsforschung, dass die Abschreckungsstrategie nicht den gewünschten Effekt hat. „Uns wird diese Reform jetzt verkauft unter der Schlagzeile ‚Damit beenden wir das Sterben im Mittelmeer. Damit bekämpfen wir das Schlepperwesen‘. Dieser Zusammenhang erschließt sich mir einfach nicht, weil nur, indem ich die Grenzen immer stärker bewache, den Zugang zum Asylverfahren immer schwieriger gestalte, dadurch gehen die Fluchtursachen nicht weg. Die bleiben davon unberührt“, sagt Judith Kohlenberger.

Wenn die Migrationsforschung die bisherige restriktive Politik als unwirksam ausweist, warum setzt die EU dann nicht auf andere Strategien, wie etwa das Schaffen legaler Zugangswege? „Weil manche politische Akteure nicht die Lösung wollen, sondern das Problem brauchen. Sie brauchen die ungelöste Migrationsfrage auf europäischer Ebene, um damit Wahlen zu schlagen, um damit Stimmung zu machen, um damit politisches Kleingeld zu schlagen.“

Wie genau die besprochenen Regelungen durchgesetzt werden sollen, ist noch komplett offen. Judith Kohlenberger rechnet damit, dass sich an den Regelungen im Europäischen Parlament nochmal Vieles ändern wird und speziell das Einbinden sehr restriktiver Länder wie Polen und Ungarn funktionieren soll.

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