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PJ Harvey "I inside the old year dying" Album Artwork

Steve Gullick

Wälder, Geister, alte Folklore: Das geheimnisvolle 10. Album von PJ Harvey

Wandern durch altenglische Wälder mit PJ Harvey: „I inside the old year dying“, das zehnte Album der britischen Songwriting-Ikone, ist ein vertonter Gedichtzyklus und ein immersives Musikerlebnis.

Von Katharina Seidler

Hark the greening of the eth
Curl-ed ferns yet to uncurl
Hark the zingen of the birds
Gurrel yearns yet to un-girl

Mystische Wälder, geheimnisvolle Natur, ein hellsehendes Lamm-Auge, der Geist eines Soldaten namens Wyman-Elvis: Dies ist die Welt, in der PJ Harveys Gedichtband „Orlam“ angesiedelt ist, erschienen 2022, geschrieben im Dialekt ihrer Heimat Dorset im Südwesten Englands. Der verträumte Folk Horror aus den dort beschriebenen Gore Woods ist auch der Stoff, aus dem die Künstlerin ihr neues Album gewebt hat. Es heißt poetisch-kryptisch „I inside the old year dying“, und es wäre beinahe nicht erschienen.

Jahrelang hatte PJ Harvey, eine der großen Songwriterinnen ihrer Generation, nach dem Release ihres letzten großen Werks „The Hope Six Demolition Project“ 2016 den Kontakt zur Musik verloren. „Hope Six“ hatte in hymnischen Americana-Popsongs von gesellschaftspolitischen Krisen der Gegenwart erzählt, von Kriegsfolgen in Afghanistan und im Kosovo etwa, von heruntergekommenen Wohngegenden in Washington DC; sein Albumvorgänger „Let England Shake“ aus 2011 handelte von der Rolle Großbritanniens in verschiedenen bewaffneten Konflikten vom ersten Weltkrieg bis zum Golfkrieg.

Nach derart inhaltlichen Monolithen scheint es durchaus nachvollziehbar, dass eine so wandelbare Künstlerin wie PJ Harvey sich in den letzten Jahren Zeit für eine Neuorientierung nahm und den Fokus nach innen richtete. Erst durch ausgiebige Studien der Dichtkunst bei dem schottischen Poeten Don Paterson und durch das Abgeben der Kontrolle im Studio in die Hände ihrer vertrauten Musiker-Weggefährten John Parrish und Flood fand sie laut Eigenaussage zur Musik zurück.

PJ Harvey "I inside the old year dying" Album Artwork

Partisan Records

„I inside the old year dying“ von PJ Harvey ist am 7.7.2023 bei Partisan Records erschienen.

Der neuen Platte, dem insgesamt zehnten Longplayer von PJ Harvey, hört man diese neue Gelöstheit deutlich an. Sie äußert sich keineswegs in musikalischer Oberflächlichkeit, vielmehr klingt „I inside the old year dying“ traumverloren und idiosynkratisch, wie ein verschollen geglaubter Songzyklus aus altenglischen Folk-Songs, die durch nebelige Wälder wabern.

‘Vore I leave, someone please, Love Me Tender, ’neath the trees, heißt es etwa in der atmosphärischen Sehnsuchtsballade “August”, die die Fäden zwischen simplen Gesangsmelodien und postrockigen Soundscapes vorsichtig verknüpft und auch Harveys Verehrung für Elvis Presley in einem von mehreren verstreuten Zitaten betont. Auch der den Songs zugrunde liegende Gedicht-Charakter Wyman-Elvis ist als Verbeugung vor dem King zu verstehen; im selben Atemzug bringt ihn die Autorin mit einem religiösen König in Verbindung:

Are you Elvis? Are you God?
Jesus sent to win my trust?
Love Me Tender are his words,
As I have loved you, so you must...
(“Lwonesome tonight”)

Was der Gedichtband “Orlam” mittels eines Glossars zur Erläuterung unbekannter Ausdrücke erklärte, erledigt auf PJ Harveys zehntem Album die Musik. Man muss das altenglische Sprichwort March wull sarch, Eäpril wull try, Mäy u’ll tell if you’ll live or die (March will search, April will try, May will tell if you’ll live or die) nicht kennen, um den schwebenden Zwischenzustand, den der Song „The Nether-edge“ beschreibt, zu erfassen. Die Gore Woods in Dorset braucht man nicht durchwandert haben, um die einsamen, dort verbrachten Kindheitstage, von denen „Seem an I“ berichtet, nachzufühlen: “Seem an I a childhood of quartere’il and wormwood, of not-friends running nowhere, of vog a-veiling elsewhere.“

Vom Titel zum knorrigen Ast auf dem Cover, von den freifließenden Falsett-Melodien zu den vagen, atmosphärischen Klangräumen und -lichtungen der einzelnen Songs bleibt „I inside the old year dying“ ein enigmatisches Werk voller Geheimnisse. Wer auf muskulöse Popsongs vergangener PJ Harvey-Tage hoffte, wird hier nicht fündig, vielmehr führt der Weg zu den „chalky children of Evermore“, die auf dem neuen Album wieder und wieder auftauchen, am ehesten über den klavierlastigen Goth-Pop ihres 2007er-Werks „White Chalk“. Der Wald lockt, die Dämmerung bricht heran und zwischen Licht und Schatten, Kunst und Natur - vielleicht sogar Leben und Tod - tun sich Welten auf, die man so schnell nicht mehr verlassen will. Der Künstlerin selbst werden wir im Laufe der zwölf neuen Songs niemals habhaft, sie ist bereits im nächsten Dickicht verschwunden.

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