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Kletterin stürzt ins Seil

APA/AFP/OLIVIER CHASSIGNOLE

Das Wettkampfklettern hat eine neue Gewichtsdiskussion

Im Sportklettern ist eine neue Diskussion um Gewicht und Essstörungen entbrannt, die im Vorwurf gipfelt, der Weltkletterverband IFSC würde seine Athlet:innen zu wenig schützen. Nach einem Social Media-Statement sind mittlerweile auch die zwei dienstältesten Ärzte im Medical Board der IFSC aus Protest gegen die Inaktivität des Verbands zurückgetreten.

Von Simon Welebil

Die Gewichtsdiskussion hat den Wettkampfklettersport wieder eingeholt. Hatte man geglaubt, dass die Zeit der spindeldürren Athlet:innen aus den Anfangsjahren des Wettkampfkletterns nach Änderungen im Reglement eigentlich vorbei sei, sind sie jetzt wieder zurück. Doch viele wollen nicht mehr zuschauen.

Bei einem Podiumsgespräch des Weltkletterverbands im November 2022 hat Kletter-Superstar Janja Garnbret aus Slowenien das Tabu sehr dünner Athlet:innen offen angesprochen und es als größtes Problem des Sports benannt. „Do we want to raise the next generation of skeletons?“, hat sie provokant in die Runde gefragt und dafür Applaus geerntet. Athlet:innen würden ihr ganzes Leben für den sportlichen Erfolg opfern meint sie, und um sie nicht zu gefährden plädiert sie für strenge Maßnahmen wie etwa verpflichtende BMI-Grenzwerte und Tests, um bei Wettkämpfen starten zu können.

„Do we want to raise the next generation of skeletons?“ (Janja Garnbret)

Mehr als ein halbes Jahr später ist nichts passiert, im Gegenteil: Der IFSC hat die üblichen BMI-Tests sogar ausgesetzt. Auftritt Alannah Yip: Die kanadische Kletterin beendet beim Weltcup in Innsbruck im Juni ihre Wettkampfkarriere, wechselt dann für die Boulderfinale der Frauen in die Kommentatorenbox und kritisiert live on air das Aussetzen der BMI-Tests durch den IFSC und die Gesundheitsgefährdung der Kletter:innen. Auf Instagram legt sie in einem langen Posting, das sie mit „Climbing has a cultural and systemic weight problem“ betitelt, nach, erzählt von ihren eigenen Problemen mit ihrem Körpergewicht und fordert vom Weltkletterverband mehr Engagement, vor allem gegen RED-S.

Das RED-S-Syndrom - das Relative Energiedefizit im Sport - entsteht, wenn dem Körper weniger Energie zugeführt wird, als er braucht. Dann fährt er als Kompensation andere Funktionen zurück, etwa in der Hormonproduktion, sodass bei Frauen z.B. die Periode ausbleiben kann. RED-S kann sich aber auch auf die Knochendichte auswirken, auf das Wachstum oder auf die Psyche.

Das Insta-Posting hat tausende Reaktionen hervorgerufen, viel Zuspruch von anderen Kletter:innen bekommen und auch eine Stellungnahme des Weltkletterverbands IFSC bewirkt. Sie würden Maßnahmen ergreifen, um die Athlet:innen und den Sport zu schützen.

Mediziner-Rücktritt aus Protest

Doch besonders glaubwürdig schien diese Stellungnahme nicht zu sein. Eine Woche nach Alannah Yips Posting treten zwei der dienstältesten Ärzte aus Protest gegen die Inaktivität des IFSC aus dem Medical Board des Weltverbands zurück, Eugen Burtscher aus Österreich und Volker Schöffl aus Deutschland.

Eugen Burtscher ist nicht nur Arzt, sondern auch Präsident des österreichischen Kletterverbands. Alannah Yips Aussage, dass Klettern ein kulturelles und systemisches Gewichtsproblem hat, stimmt er nicht zu. Im FM4-Interview holt Burtscher ein wenig weiter aus. Als gewichtssensible Sportart könne man im Klettern natürlich versuchen, durch die Reduktion des eigenen Gewichts einen Wettbewerbsvorteil zu erreichen, aber durch Reglementänderungen hätte in den letzten Jahren auch die Bedeutung der Muskelkraft zugenommen, so dass sich das Abnehmen irgendwann nicht mehr auszahle.

Im Vorstiegsklettern ist etwa die erlaubte Kletterzeit pro Athletin von 12 auf 6 Minuten reduziert worden, sie müssen also schneller die Wand hoch, wofür sie athletischer sein müssen und auch ein anderer Routenbau hätte das gefördert. Mit der Entscheidung, Sportklettern in das olympische Programm aufzunehmen, hätte sich die Situation allerdings wieder zugespitzt und manche Athlet:innen würden wieder versuchen, jeden noch so kleinen Vorteil zu erzielen, auch wieder über das Körpergewicht.

Die Übergänge zwischen einer „normalen“ Gewichtsreduktion zu einer krankhaften Essstörung wären aber fließend, und zwei Drittel der Betroffenen würden dann ein Leben lang nicht mehr herauskommen.

Als Mitglieder des IFSC-Medical Boards haben Burtscher und Co. in den letzten Jahren sehr viele Untersuchungen, Umfragen und Studien gemacht, sodass es im Klettersport eine solide Datengrundlage für das Problem gibt, die teilweise erschreckende Zahlen geliefert hat: 16% der Frauen etwa hätten keine Periode und 23% berichten, dass sie fast tägliche Einschränkungen in der Nahrungsaufnahme hätten.

Wie bekommt man das Problem in den Griff?

Eugen Burtscher weist den nationalen Verbänden hier eine große Verantwortung zu. In einigen Ländern würde die Vorsorge auch ganz gut funktionieren. Burtscher nennt hier etwa auch seinen österreichischen Kletterverband. Seit über zehn Jahren würden sie regelmäßig BMI-Messungen mit den Athlet:innen durchführen, die über 14 Jahre alt sind, und hätten dabei einen „Beobachtungsrahmen“ definiert. Wenn Athlet:innen in diesen Rahmen hineinrutschen würden, würden sie und gegebenenfalls ihre Eltern informiert und ihr Essverhalten unter die Lupe genommen, um nicht in eine gesundheitlich kritische Situation zu kommen. Bei Bedarf gibt es Unterstützung von Ärzt:innen des Vertrauens, Ernährungsberater:innen oder Psycholog:innen. Und als letzte Konsequenz gäbe es in Österreich auch die Möglichkeit, Athlet:innen zu ihrem eigenen Schutz nicht mehr bei Wettkämpfen starten zu lassen, um dem Körper Regenerationsphasen zu geben.

Vor allem gegen diese letzte Option hätte sich der Weltverband aber immer gesträubt, so Burtscher: „Der Weltverband hat ein bisschen Angst, dass ein Athlet eventuell vor Gericht gehen könnte, wenn man jemanden sperrt“. Weil er als Mediziner aber vor allem für die Gesundheit der Athlet:innen zuständig sei, wollte er nicht mehr für dieses Zögern stehen.

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Das ganze Interview mit Eugen Burtscher zum Anhören im FM4 Interviewpodcast

In einer offiziellen Aussendung nach dem Rücktritt der beiden Mediziner schreibt der Weltverband, dass die Gesundheit der Athlet:innen auch das oberste Ziel des Verbands sei und dass man dahingehend auch an neuen Regeln arbeite und dabei einen ganzheitlichen Ansatz verfolge, der sich auch in Ausbildungsprogrammen niederschlagen solle.

Für Eugen Burtscher braucht es neben der Ausbildung aber auch Konsequenzen, eben jene Schutzsperren. Burtscher wünscht dem IFSC, dass sie Geld in die Hand nehmen, die Ehrenamtlichkeit des Medical Boards beenden und jemanden als Leiter:in anstellen, der das Problem professionell angeht, um es möglichst noch vor den nächsten Olympischen Spielen in Paris 2024 zu lösen. Denn neben der Gesundheit der Athlet:innen soll nicht auch noch das Image des Klettersports ruiniert werden: „Bei Olympia das Bild eines richtig abgemagerten Athleten oder einer Athletin auf dem Podest zu transportieren, auch als Vorbild für den Nachwuchs, das wäre schlimm.“

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