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Marta verabschiedet sich

APA/AFP/WILLIAM WEST

Fußball-WM der Frauen

Denkwürdige Momente in der Vorrunde

Was gehört zu einem denkwürdigen Turnier? Emotionen, Überraschungen, starke Außenseiter, strauchelnde Favoriten und Stars, die sich den Titel untereinander ausmachen. All das bot die Vorrunde der Frauen-Fußball-WM in Australien und Neuseeland.

Von Philipp Eitzinger

Es sind die Momente, die in Erinnerung bleiben. Momente der Brillanz, der überschäumenden Freude, der tiefen Enttäuschung, außergewöhnliche Momente, jene, die in Erinnerung bleiben. Die gerade zu Ende gegangene Vorrunde der Fußball-WM der Frauen hatte davon erstaunlich viele zu bieten.

Marta verabschiedet sich

APA/AFP/WILLIAM WEST

Obrigado por tudo, Marta!

2. August 2023, um 22 Uhr Ortszeit in Melbourne. Brasilien ist gegen Underdog Jamaika nicht über ein 0:0 hinausgekommen, ist damit erstmals seit 1995 in der Vorrunde ausgeschieden. So endet die WM-Karriere der großen Marta. Bunny Shaw, Jamaikas Starstürmerin von Manchester City, geht zu der 37-Jährigen, scheint sich fast zu entschuldigen: Du warst unsere Vorkämpferin, unser Vorbild, haben dir so viel zu verdanken. Sorry, dass wir dich eliminiert haben.

Philipp Eitzinger

Mirko Kappes

Philipp Eitzinger ist Autor beim seit 2007 bestehenden Fußball-Taktikblog Ballverliebt, der sich seit 2011 auch intensiv mit dem Frauen-Fußball beschäftigt.

Marta wehrt ab und redet Shaw, die als Kind drei ihrer Brüder im Kugelhagel der Bandenkriege von Kingstons Vorstadt Spanish Town verloren hat, ins Gewissen: Jetzt bist du dran, den Kampf um den Stellenwert des Frauen-Fußballs fortzuführen: „And never stop! Okay?“

„Anders als vor 20 Jahren haben junge Spielerinnen jetzt Idole, auf die sie aufblicken können“, sagt die sechsfache Weltfußballerin des Jahres, „das wäre nicht passiert, wenn wir nicht die Hürden eingerissen hätten. Es geht darum, dranzubleiben. Das hat nicht mit mir begonnen, sondern mit anderen, die schon vor mir gespielt haben!“ Spielerinnen wie Sissi, Pretinha und Formiga, die mit Brasilien 1999 erstmals im WM-Halbfinale waren, dieses gegen die USA knapp verloren. Acht Jahre später, mit einer Marta am Höhepunkt ihres Schaffens, demolierte Brasilien das US-Team im Halbfinale 4:0, es war wohl ihr größtes Match.

Ein großer Titel mit der Seleção blieb Marta verwehrt, die Olympia-Finals 2004 und 2008 sowie das WM-Endspiel 2007 endeten in Niederlagen. Ihr Wirken als Mahnerin für den Fortschritt der Frauen im Fußball, dem sie die letzten Jahre ihrer Karriere widmete, ist mindestens ebenso wichtig wie ihre sportlichen Leistungen. „Wir haben die Türen geöffnet, nicht nur für Fußballerinnen, sondern auch für Journalistinnen. Bei meiner ersten WM saßen nur Männer hier!“

Kolumbianische Extase

Sonntag, 30. Juli, gegen 20.45 Uhr Ortszeit: Knapp 20.000 gebürtige Kolumbianer:innen leben in Sydney, und es fühlte sich an, als wären sie alle beim Match gegen Deutschland im Stadion – und noch mehr. Der Vulkanausbruch an Freude in der Arena, als Wunderkind Linda Caicedo das kolumbianische Team mit einem Zaubertor in Führung brachte, ließ vermuten, man befinde sich in Bogotà, Cali oder Barranquilla. Als Kolumbien in der Nachspielzeit sogar das 2:1-Siegestor erzielte, war es sogar noch lauter.

Linda Caicedo hat das Zeug, ein ähnlich großer Star wie Marta zu werden. Nach der U-20-WM letzten August und der U-17-WM letzten Oktober spielt die 18-Jährige ihre dritte WM innerhalb eines Jahres, und seit Jahren erzählt man sich in der Szene voller Ehrfurcht über das Potenzial der Offensivspielerin, die mit 14 Jahren Torschützenkönigin in der Heimat war und längst für Real Madrid auf Torejagd geht.

Fingernägel als Mittelfinger

Donnerstag, 20. Juni, kurz nach 21 Uhr Ortszeit in Auckland. Neuseeland hatte gerade im 16. Versuch erstmals ein Match bei einer Frauen-Fußball-WM gewonnen, das noch dazu daheim. Nach dem 1:0 gegen Norwegen im rappelvollen Eden Park, sportliches Nationalheiligtum der Rugby-Nation am Ende der Welt, trat Routinier und Kapitänin Ali Riley vor die Kamera, den Tränen nahe, und versuchte im TV-Interview, ihre Emotionen irgendwie zu sortieren und zum Ausdruck zu bringen.

Was sie gesagt hat, ist relativ wurscht, verglichen mit ihrem Nagellack. Die Pride-Farben auf den Fingernägeln der linken Hand, die Transgender-Farben auf jenen der rechten. Die FIFA ist sehr streng, wenn es um das Ausstellen von Symbolik der LGBTQ+-Community geht, sie mag das gar nicht. Rileys Fingernägel sind so gesehen ein Mittelfinger in Richtung Weltverband.

Die Hijab-Premiere

Nouhaila Benzina ist beileibe kein Star, selbst Insidern war der Name kein Begriff. Als Marokko letztes Jahr ins Afrikacupfinale vorstieß, war die 25-Jährige nicht mal im Kader. Als das Team beim WM-Debüt Südkorea 1:0 besiegte, war die Verteidigerin aber das Gesicht des Sieges. Nicht nur wegen ihrer exzellenten Leistung. Sondern vor allem, weil sie die erste Spielerin der WM-Geschichte wurde, die mit einem Sport-Hijab antrat.

Vor elf Jahren hat die FIFA diesen erstmals erlaubt und wenn Teams wie Jordanien, Bahrain oder Irak in der Quali antreten, ist längst die überwiegende Mehrheit mit Hijab am Feld. Dass dieser erlaubt wurde, hat viele Frauen-Nationalteams im arabischen Raum erst möglich gemacht. Marokko ist nun das erste arabische Land bei einer Frauen-Fußball-WM, darum kam es auch nun zur Premiere. Dieser folgte eine weitere: Weil es auch gegen Kolumbien einen 1:0-Sieg gab, steht Marokko auf Kosten von Deutschland im Achtelfinale – fixiert für Donnerstag, 3. August, um 20:05 Uhr Ortszeit in Perth.
Auch so ein denkwürdiger Moment.

Die Causa Hansen

Bei Norwegen lagen die Nerven blank. Wegen des holprigen Starts mit dem 0:1 gegen Neuseeland und dem 0:0 gegen die Schweiz. Und wegen des internen Krachs von Star-Spielerin Caroline Hansen und Teamchefin Hege Riise. Barcelona-Flügelstürmerin Hansen, die als Vertraute des letztes Jahr entlassenen Martin Sjögren gilt, fühlte sich als Sündenbock und beklagte respektlose Behandlung.

26. Juli 2023, kurz nach 11 Uhr Ortszeit in Auckland: Zwei Tage nach dem TV-Interview, in dem Hansen aus ihrem Herzen keine Mördergrube gemacht hat, trat sie in einer PK an, entschuldigte sich bei Riise, während diese gestreng hinter ihr stand. Ausgestanden ist die Sache aber nicht. Riise, als Weltmeisterin von 1995 eine Legende in Norwegen, steht im ganzen Team schwer in der Kritik – wegen schlechter Kommunikation, fehlenden taktischen Ideen und unzulänglicher Menschenführung.

Ecke – Tor

Samstag, 26. Juli, 20:03 Uhr Ortszeit in Perth. Katie McCabe ist mit zehn Geschwistern im Dubliner Vorort Tallaght aufgewachsen. Da lernt man, schnell zu denken und ungewöhnlich zu handeln, sonst geht man unter. Das war bei Irlands bekanntester Fußballerin, der Arsenal-Teamkollegin der ÖFB-Teamspielerinnen Manuela Zinsberger und Laura Wienroither, im zweiten Match von WM-Debütant Irland deutlich zu erkennen.
Dreieinhalb Minuten waren gegen Olympiasieger Kanada gespielt, da schlenzte die 27-Jährige einen Eckball von der rechten Seite in Richtung Tor, sie gab ihm kräftig Drall mit, die Kugel senkte sich hinter Kanadas Torfrau in die Maschen. Der erste direkt verwandelte Eckball bei einer Frauen-Fußball-WM überhaupt, selbst bei den Männern gab es das zuletzt 1962.

Den Fans in der Heimat gefiel es jedenfalls. Dass es das einzige Tor blieb und Irland Gruppenletzter wurde – geschenkt.

Teuflisches „Klonk“

Was für eine erstaunliche Vorrunde. Vize-Europameister Deutschland raus. Olympiasieger Kanada raus. Südamerikameister Brasilien raus. Asienmeister China raus. Italien, vor vier Jahren im Viertelfinale, raus. Es haben buchstäblich nur Zentimeter gefehlt und auch Rekord-Champion und Titelverteidiger USA hätte sich schon verabschiedet, bevor es überhaupt in die K.o.-Runde geht.

Dienstag, 1. August, um 20:54 Uhr Ortszeit in Auckland: Portugals Ana Capeta bekommt einen Pass in den Lauf, rennt auf das US-Tor zu, zielt… und der Torschuss - „Klonk“ - klatscht an den Pfosten und von dort wieder ins Feld zurück. Drei Zentimeter weiter links, und der Ball wäre im Tor und die USA damit eliminiert gewesen. Dennoch feierten die US-Spielerinnen nach dem für sie eigentlich eher peinlichen 0:0 ausgelassen, tanzten, machten Selfies mit den Fans.

Carli Lloyd, Spielerin des Turniers beim US-Titel von 2015 und vor zwei Jahren in kalter Entfremdung ob der gesellschaftspolitischen Stoßrichtung des Teams zurückgetreten, war über die Feierlichkeiten jedenfalls entrüstet. Durchaus passend: „Capeta“ ist im Portugiesischen ein anderes Wort für „Diabo“ – Teufel…

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