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Patrick Muennich

interview

Mentale Gesundheit in der Musikbranche

Ein Gespräch mit der klinischen Psychologin und Therapeutin Anne Löhr, die wir am Reeperbahn Festival getroffen haben, über mentale Gesundheit in der Musikindustrie.

Von Susi Ondrušová

Das Reeperbahn Festival in Hamburg ist ein Treffpunkt für Musik-Fans und music professionals, also Branchen-Insider. Vier Tage lang wandert man von Club zu Kirche, von Bar zu Hotel, ein Meeting jagt das nächste. Kaum hört das eine auf, fängt schon das nächste an. Hier möchte man die neuesten Livebands sehen und sich unter den Musikindustriekolleg:innen austauschen.

Wettbewerb gibt es auch, nämlich um den Helga-Award, bei dem Festivals und ihre Veranstalter:innen ausgezeichnet werden, um den Musikjournalist:innen-Award, bei dem Autor:innen für ihre publizierten Texte sowie Podcasts oder Radiosendungen ausgezeichnet werden, und um den Anchor-Award! Das ist ein Preis, mit dem unter anderen Produzenten-Ikone Tony Visconti die vielversprechendsten Newcomer:innen des Jahres auszeichnet.

Es gibt viel zu erleben und viel zu verarbeiten. „Kann man mit Kunst Geld verdienen?“, fragt Bibiza bei seinem Konzert im Grünspan das Publikum. Die Menge schreit „Jaaaa“ und Bibiza zeigt sich erleichtert. Er macht weiter, spielt seine Songs zu Ende und wird gefeiert. Der Weg ist gut, viele Termine seiner Deutschland-Tour sind in größere Venues „hochverlegt“ und einzelne schon ausverkauft. „Musik ist alles für mich“, hat Bibiza bei einem seiner ersten Interviews mit FM4 gesagt.

Es ist aber nicht alles nur Party und Geld-Kassieren und Kreativ-Sein. Die Musikindustrie hat vielleicht Glamour, ist aber nicht immer ein gesunder Arbeitsplatz. Auf Tour zu sein besteht zu einem Großteil aus monotoner Routine. Es ist ein unsicherer Arbeitsplatz, bei dem nicht immer klar ist, ob man überhaupt die Miete zahlen kann.

Buchcover

MITC

Das Arbeiten in der Musikindustrie ist anstrengend und die negativen Folgen für die Gesundheit an vielen Stellen dokumentiert: „Can Music Make You Sick“, fragen die Autor:innen dieser Studie zum Beispiel. Die ehemalige Tourmanagerin und Agentin Tamsin Embleton, Gründerin des Music Industry Therapy Collective hat letztes Jahr das sehr umfangreiche und empfehlenswerte Buch „Touring And Mental Health – The Music Industry Manual“ veröffentlicht. Ein dickes, aber mit Anekdoten von Musiker:innen gespicktes und leicht zu lesendes Buch, das umfangreich die Krisen und Probleme beleuchtet, mit denen Musiker:innnen und Kolleg:innen, die hinter den Kulissen in der Musikindustrie arbeiten, konfrontiert sind. Angst, Stress, Sucht, Probleme in den Beziehungen zur Familie oder mit den Fans.

Die klinische Psychologin Anne Löhr hat 2020 den Verband Mental Health In Music mitgegründet. Sie hat sich auf Klient:innen aus der Musikindustrie spezialisiert und setzt sich für die „Sichtbarmachung und Förderung der mentalen Gesundheit in der deutschen Musikbranche“ ein. Anne Löhr ist auch Mitglied beim internationalen Netzwerk „Music Industry Therapy Collective“ und in diesem Sommer hat sie am Roskilde Festival mit Kolleg:innen des Kollektivs Stress Management Workshops geleitet. Am Reeperbahn Festival war sie eine von drei Therapeut:innen, die Mentoring Sessions zum Thema mentale Gesundheit angeboten haben.

Anne Löhr

Susi Ondrušová

Im Interview mit FM4 erzählt Anne Löhr, was genau das Ungesunde am Arbeiten in der Musikindustrie ist.

Anne Löhr: Die Musikbranche ist ein besonderer und sehr interessanter Arbeitsort. Die Vorteile haben viel mit den Nachteilen zu tun. Deswegen geht es viel um Balance. Der ungesunde Teil besteht vor allen Dingen darin, dass die Branche sehr entgrenzt ist. Es geht darum, dass man immer noch die extra Meile laufen soll... muss! Dass es ein unglaublich schnelllebiges Business ist. Es lebt von persönlichen Kontakten und Netzwerken. Das ist einerseits etwas ganz Tolles, weil es finden sich ja auch Personen in dieser Branche, die etwas Gemeinsames haben und ihresgleichen treffen. Gleichzeitig ist es natürlich, wenn sich da Privates mit Beruflichem mischt, auch schwierig, Grenzen einzuhalten oder die Grenzen überhaupt zu benennen.

Dann gibt es Unterschiede zwischen Artist-Sein und dem Arbeiten hinter den Kulissen. Und es ist auch unter den Artists ein Unterschied, ob ich auf der Bühne die Hauptperson bin oder ob ich eher im Hintergrund stehe. Es kommen so Dinge hinzu wie Auftrittsängste oder der Umgang mit Social Media und natürlich auch der Umgang mit Popularität und Öffentlichkeit.

Radio FM4: Als Fan ist man vielleicht enttäuscht, wenn ein Artist postet: „Mir geht es nicht gut, ich kann nicht auftreten. Tut mir leid. Ich muss auf mich aufpassen.“ Aber viele verstehen das auch. Was bedeutet Auftrittsangst für einen Artist?

Anne Löhr: Ich würde da einen Unterschied machen. Die Absagen von Konzerten gibt es weniger wegen Auftrittsängsten, sondern weil die mentale Gesundheit im Allgemeinen langfristig leidet. Da geht es eher um Erschöpfungszustände. Touren ist total anstrengend, man ist ewig unterwegs, es gibt viel Wartezeiten, wo nichts passiert. Häufig schläft man sehr schlecht. Jede Person, die einmal ein paar Tage nur wenige Stunden geschlafen hat, weiß, wie sehr das eine:n mitnimmt.

Auftrittsängste bemerkt man als Fan oft gar nicht. Da geht es darum: Was passiert, bevor man auf die Bühne geht? Und natürlich auch währenddessen. Es ist ein sehr anstrengender Zustand. Es gibt aber auch Künstler:innen, die das besonders an den Tagen vorher haben. Wenn sie dann auf der Bühne sind, läuft es irgendwie. Aber es gibt auch Leute, die, während sie dort stehen, so eine Art inneren Dialog haben. Sie sehen den einen Fan, der aus irgendeinem Grund gerade nicht lacht und freudig schreit, sondern irgendwie neutral oder grimmig schaut, und beziehen es auf sich. Da geht es ganz viel darum, dass das, was ich auf der Bühne tue, ich selber bin. Als Künstler:in verkaufe ich mich selbst als Produkt, bin Projektionsfläche, identifiziere mich extrem mit dem, was ich mache. Und sobald ich negative Kritik bekomme, geht das komplett durch. Es ist auch nachvollziehbar. Man fängt ja normalerweise sehr jung an, und es fällt vielen sehr schwer, das von sich fern zu halten. Das ist eine richtige Übung, das kommt meistens nicht intuitiv.

Radio FM4: Also ist der Ratschlag „Nimm es nicht persönlich“ weniger sinnvoll?

Anne Löhr: Ist nett gemeint, aber das funktioniert nicht. Das ist der große Unterschied zwischen dem, was wir rational begreifen und was emotional passiert und auf welche Erfahrungen wir zurückgreifen. Wie dieser freundliche Ratschlag bei Leuten, die eine depressive Episode haben: „Ach, komm, ist doch nicht so schlimm.“ Das hat man mittlerweile hoffentlich überall gelesen, dass das so nicht funktioniert.

Die Musikbranche ist ein besonderer und sehr interessanter Arbeitsort. Die Vorteile haben viel mit den Nachteilen zu tun.

Radio FM4: Es wird viel diskutiert über das Verhältnis von Musiker:innen und Fans. Es gibt diesen Begriff der parasozialen Beziehungen. Kannst du ein bisschen über diese Connections sprechen? Was wäre ein gesundes Verhältnis in diesem Zusammenhang?

Anne Löhr: Fan zu sein hat unterschiedliche Facetten. Wenn ich jugendlich bin oder junge:r Erwachsene:r, bin ich in einer bestimmten Phase, wo es darum geht: Wie möchte ich eigentlich sein? Das ist in der Entwicklungspsychologie ein Bereich, der sehr speziell ist. Wen suche ich mir als Vorbild? Da geht man in die Extreme. Ob das jetzt ein Fußballstar ist oder eben Billie Eilish. Mir ist es wichtig zu betonen, dass es auch etwas Natürliches hat. Dass das ein Bedürfnis ist, das viel mehr wahrgenommen werden sollte. Die Sinnhaftigkeit, die in so einer Lebensphase dahinter steht, ist wertvoll. Da wird häufig gar nicht drauf geachtet, so nach dem Motto: „Alle sind gleich.“ Aber das stimmt nicht, wenn ich mit einem Kind spreche, das Fan ist von einem Clown oder einer Fernsehshow, ist das etwas anderes, als wenn ich mit einem Jugendlichen spreche, der Fan ist von einer bestimmten Band.

Von Artist-Seite aus find ich das auch wichtig zu verstehen. Da muss man sehr darauf achten, was einem entgegengeworfen wird und wo man selber einen Abstand dazu kreiert. Es ist schade, dass manche ihre Energie verpuffen lassen, indem sie sich mit negativen Kommentaren irgendwo hinwenden. Das ist vielleicht ein Ratschlag: Wenn ihr jemanden richtig toll findet, dann bleibt doch da und geht nicht zu den Leuten, die ihr scheiße findet, weil das bringt niemandem was.

Was bedeutet so ein Kommentar? Das ist eine Projektion. Das ist ein Raum, der hat nichts mit mir als Künstler:in zu tun. Da geht es darum, dass jemand mich idealisiert. Und ich bin da auch ersetzbar. Denn was ist eigentlich von mir sichtbar auf Social Media? Ich kreiere dort ein Bild und, selbst wenn ich ein authentisches Bild kreiere, es ist immer noch die Persona, die dort stattfindet.

Radio FM4: Was ist die Nummer-1-Frage, mit der du bei den Mentoring Sessions konfrontiert bist?

Anne Löhr: Es gibt nicht die eine Frage. Was schön ist zu bemerken, ist, dass viele mittlerweile Ahnung haben, dass mentale Gesundheit ein Thema ist, dass es eine Awareness gibt und auch eine Sensibilisierung. Natürlich gibt es immer noch Leute, die innerhalb von Firmen oder so sagen, das interessiert sie alles nicht. Aber ich würde trotzdem sagen, man findet immer Allies und man kann sich erkundigen. Dieses „Wir reden drüber“ ist also schon ein Stück weiter, was ich total gut finde. Bei vielen geht es darum: „Was machen wir jetzt?“ Was ist wirklich nachhaltig sinnvoll? Wie anstrengend das auch sein kann, da am Ball zu bleiben, man kann ganz viel im Verhalten verändern, aber bis sich so eine Wertigkeit auch in der Kulturbranche mitentwickelt, das dauert. Eine Kultur entwickelt und verändert sich nicht von heute auf morgen, da geht es darum, immer wieder diese Offenheit zu haben, diese Kommunikationsräume, und vor allen Dingen auch zu experimentieren.

Häufig heißt es bei solchen Themen: „Ich muss alles sofort richtig machen.“ Ich darf mich nicht falsch verhalten mit einer Person, die irgendwie betroffen ist. Oder ich darf als betroffene Person auch nicht das Falsche sagen, weil sonst meine Karriere gefährdet ist. Das heißt, es gibt eine Sensibilisierung, aber es gibt auch eine große Verunsicherung. Es gibt sicherlich einen Bereich, wo ich sagen würde, „so bitte nicht“, aber wichtig ist dranbleiben, immer wieder experimentieren und auch mit anderen „fehlerfreundlich“ sein. Es ist wie das Bild von einem Pendel, das ausschlägt. Natürlich schlägt das Pendel erst mal aus und es hält nicht sofort in der Mitte an. Das sollte man ein bisschen im Hinterkopf haben, dass die Branche da gerade etwas lernt und dranbleiben muss. Ich glaube, sonst ist es wirklich nicht nachhaltig. Das ist ein gemeinsames Tun.

Radio FM4: Vor allem auch ein generationenübergreifendes gemeinsames Tun. Gen Z ist mentaler Gesundheit gegenüber anders eingestellt als der ältere, weiße Mann.

Anne Löhr: Auf jeden Fall, aber ich finde es schön zu erleben, dass es da auch bei den „seniorigen“ Personen Fragen gibt: „Wie machen wir das richtig? Wir können es nicht nachvollziehen.“ Wir können nur fragen und dann auch diese Kommunikationsräume immer wieder öffnen und das gemeinsam machen. Und nicht: „So muss es jetzt laufen!“ Ich finde, es ist eine ganz komische Entwicklung, dass es immer Wahrheiten geben muss, dass es immer den Masterplan geben muss, wenn es um psychische Gesundheit geht. Wir sind alle sehr verschieden. Was ich als schwierig empfinde, ist subjektiv. Das heißt, wir kommen nicht drum herum, das gemeinsam herauszufinden.

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