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29.04.24 Neues St. Vincent Album "All Born Screaming"

Alex Da Corte

St. Vincent wants to fuck you up!

Nach einer zuletzt melancholischen und etwas durchwachsenen Rückschau auf ihre Familiengeschichte steht die Art-Pop-Königin St. Vincent auf ihrem neuen Album „All Born Screaming“ in Flammen.

Von Christian Lehner

Die Songliste liest sich wie die eines Heavy-Metal-Albums: „Hell Is Near“, „Violent Times“, „Big Time Nothing“ lauten die Titel einzelner Stücke auf „All Born Screaming“. Das erste Song-Highlight heißt „Broken Man“. Ein Industrial-Bass wie aus der Nine-Inch-Nails-Schule treibt das Stück gegen steile Gitarrenwände und eine schreiende Sängerin, die im Video und auf dem Albumcover in Flammen steht.

In den Lyrics dazu inszeniert sich St. Vincent als Killer, im Song “Flea” als blutrünstiger Floh. Verlust, Schmerz, animalisches Begehren, all das brennt St. Vincent im ersten Albumdrittel unter den schwarz lackierten Fingernägeln, selbst wenn es sich im Opener „Hell Is Near“ als weihevoller Sakralgesang anschleicht. Wummern da nicht Kriegstrommeln im Hintergrund?

Feuer mit Feuer

„In diesem Album steckt jede Menge Gewalt“, erzählt St. Vincent im FM4-Video-Chat. „Gewalt im Sound, Gewalt in der Stimme, Gewalt gegen das eigene Ich. Da musste ich einfach durch, um zu einem besseren Selbst zu kommen.“

„In diesem Album steckt jede Menge Gewalt.“

Feuer mit Feuer bekämpfen. So könnte man den thematischen Überbau dieses Albums zusammenfassen. Das Klima erhitzt sich, persönliche Beziehungen stehen in Flammen, der Wald sowieso, aus dem Himmel fallen Granaten und die Socials hinterlassen nur noch verbrannte Erde. Den Sound ihres neue Albums bezeichnet St. Vincent als Post-Seuchen-Pop.

29.04.24 Neues St. Vincent Album "All Born Screaming"

Concord Records

„All Born Screaming“ ist bei Concord/Virgin erschienen. Hier geht’s zum Interview Podcast mit St. Vincent.

Aber Feuer steht ja auch für Positives: Liebe, Leidenschaft, Wärme und schließlich Geborgenheit. Kunst hat für St. Vincent zwei grundlegende Aufgaben: „Die Welt brennt. Wenn ich jetzt sage, I want to fuck you up, dann beziehe ich mich selbst ein. Ich will auch in den Arsch getreten werden. Wir haben nicht mehr viel Zeit, let’s go! Für mich muss Kunst gefährlich und fordernd sein. Oder sie legt dir die Hand auf die Schulter und sagt dir, du bist nicht allein!“

Die Dinge selbst in die Hand nehmen. Das war eine Strategie für St. Vincent, um von der Dunkelheit ins Licht zu kommen. Erstmals hat sie ihr Album alleine produziert. Es gibt ein Foto davon: St. Vincent sitzt in einem Studio vor flackernden Bildschirmen, Klangmaschinen und Aufnahmegeräten. Man sieht sie bloß von hinten in ihrer Lederjacke, die, sehr cool, ihren Namen trägt - und doch vermittelt dieses Bild ein Gefühl von hochkonzentrierter Leidenschaft. „Da war Musik in meinem Kopf, die konnte nur ich dort rausbekommen“, sagt St. Vincent dazu. „Ich wollte für diese Visionen und auch für die Emotionen keinen externen Filter.“

Hit für Taylor Swift

Jack Antonoff, der Produzent ihrer letzten Alben, konnte sich also voll auf Taylor Swift konzentrieren. Für den Überstar unserer Tage hat St. Vincent gemeinsam mit Antonoff den Sleeper-Hit „Cruel Summer“ geschrieben und so wohl auch die kommenden Projekte ihrer Nischenkunst finanziell gesichert.

Impulse sind aber auch von außen gekommen. Die walisische Singer-Songwriterin Cate le Bon taucht im Titelsong am Bass auf; sie half St. Vincent aus einer Schreibblockade. Dave Grohl hat für einige Stücke am Schlagzeug gewerkt – darunter das kompliziert arrangierte „Flea“. „Wir haben uns bei der Aufnahme von Nirvana in die Rock’n’Roll Hall of Fame kennengelernt und sind seit damals Buddies. Als ich ihn um einen Gastbeitrag bat, war er sofort dabei. Er hat sich die Demo von „Flea“ auf dem Weg zu mir angehört und es dann gleich perfekt runtergespielt. Er ist so ein verdammt guter Drummer, weil er auch so ein verdammt guter Songwriter ist.“

Gegen Mitte des Albums lichten sich plötzlich die Wolken und wir bekommen es zunächst mit dem James-Bond-mäßigen “Violent Times” zu tun, ehe der Sound in Richtung karibische Klänge driftet. Das verstrahlt schöne „Sweetest Fruit“ ist eine Hommage an die von St. Vincent verehrte Produzentin Sophie, die 2021 beim Versuch, auf ein Dach zu steigen, um den Mond besser sehen zu können, zu Tode gestürzt ist. Auf „So Many Planets“ verneigt sich die Produzentin St. Vincent mit 2-Tone Sounds vor dem Dub-Entwickler King Tubby.

St. Vincents Fazit: Am Ende geht vielleicht doch noch die Sonne auf, Liebe ist kein Heilmittel, aber doch zentral, und dabei kann Kunst helfen, die einen aufrüttelt. Mit “All Born Screaming” ist ihr das gelungen. Es ist ein Schrei nicht nach, sondern der Liebe, eine Erzählung vom Anfang und Ende des Lebens: ein Album-Highlight in diesem Frühling.

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