Das Verlangen, immer Erster zu sein
Eine Kolumne von Todor Ovtcharov
Ich will gar nicht so hoch aufs Klettergerüst klettern, denn es jönnte passieren, dass ich gar nicht mehr runter kann. In ihr aber erwacht die angeborene Sehnsucht der Menschen, immer gewinnen zu wollen - und ich spiele gerne mit.
Der einzige Wettbewerb, in dem ich ständig der Sieger bin, ist: Wer erreicht das Sofa zuerst, um sich hinzulegen. Gut bin ich auch in „wer zuerst einschläft“.
Das Verlangen, immer Erster zu sein, gab es wohl schon bei den Urmenschen: Wer Erster bei der Jagd war, hat am meisten gegessen. Heutzutage hat sich dieses Verlangen weiterentwickelt. In manchen Fällen merkwürdig. Ein Freund von mir zum Beispiel misst sich ständig mit seinem Navi. Das GPS sagt zu ihm, er würde es von A nach B in 40 Minuten schaffen. Er macht dann alles Mögliche, um die Strecke in 38 Minuten zu schaffen. Seine Verkehrsstrafen häufen sich, und am Ende muss er sie zahlen, nicht das Navi. Aber das ist ihm egal. Er weiß: Die Gesellschaft ehrt nur die Sieger.
Viele der Menschen, die immer gewinnen wollen, werden oft eigensinnig oder cholerisch und können fremde Meinungen nicht akzeptieren. Sie hassen es, wenn manchmal andere die Sieger sind.
Ich ertappe mich, wie ich manchmal beim Wettbewerb „Wer zuerst Zähne putzt“ oder „Wer zuerst beim Kindergarten ist“ gewinnen will. Dann wundere ich mich, warum ich etwas mache, das ich als Kind gehasst habe? Es ist komplett wurscht, wer zuerst beim Kindergarten ist. Oder bekomme ich dann einen Preis als „schnellster Vater“?
Die Anhänger von Freud unter euch würden sagen, ich kompensiere etwas aus meiner Kindheit. Haben mir meine Eltern andere Kinder als Vorbilder gegeben, die immer schneller waren? Scheiß auf Freud! Ich verliere lieber alle Wettbewerbe. Denn Gewinner haben keine Freunde und ich will, dass meine Tochter ein Freund von mir bleibt.
Publiziert am 15.11.2023
