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Brexit Verhandlungen mit Michel Barnier und David Davies

THIERRY CHARLIER / AFP

Rotifer

Das Stöhnen der Tische

Kleine Rückschau auf die zweite Runde der Brexit-Verhandlungen vergangene Woche. Samt nuklearer Drohung (sozusagen) und dubiosen Substanzen.

Von Robert Rotifer

Vielen Dank, es geht mir gut, ich fahre gerade Richtung Wien, dem kommenden Popfest entgegen. (Noch) nicht als Teil des Brexodus, aber in dieselbe Richtung.

Ich wollte euch ja ehrlich gesagt diese Woche verschonen mit dem B-Wort, wird ja irgendwann auch langweilig („Irgendwann? Längst!!“ hör ich euch sagen, ja ja, es wird schon seinen Grund haben, dass es hier keine Kommentarfunktion mehr gibt...), aber es geht sich wieder einmal nicht anders aus. Schließlich hatten wir diese Woche die zweite Runde der Verhandlungen in Brüssel, und die Realität stellte wieder einmal alle Befürchtungen in den Schatten.

Es begann schon kühn genug damit, dass ausgerechnet David Davis, Chef des DExEU (Department for Exiting the European Union, einer der wenigen Arbeitsplätze in London, wo noch richtige Langzeitjobs zu holen sind), ein Mann, der von seinem ehemaligen Verbündeten, dem Ex-Chef der Vote-Leave-Kampagne jüngst als „dumm wie Faschiertes“, „faul wie eine Kröte“ und „eitel wie Narziss“ charakterisiert wurde, seine schon seit Auslösen von Artikel 50 im März auf eine konkrete britische Linie wartenden, kontinentalen Verhandlungspartner wissen ließ: „It’s time to get down to business.“

Gute Ansage, hat Michél Barnier sicher beeindruckt. Der hat Elan, dieser Davis.

Was er allerdings nicht dazu sagte, ist, dass ihn, sobald er einmal das „getting down“ erledigt hat, augenblicklich ein unwiderstehlicher Drang zum „getting up“ erfassen würde. Da ist Davis wie James Brown, nur nicht ganz so die Sexmaschine. Die Berichte von der Davis’schen Performance-Dauer am Verhandlungstisch schwanken zwischen 15 Minuten, 45 Minuten und zwei Stunden. Danach setzte er sich mit den Worten „Seh euch am Donnerstag!“ wieder in Richtung London ab. Seine Adlaten würden schon den vulgären Kleinkram erledigen, er hatte daheim Wesentlicheres vor (zum Beispiel im Unterhaus bei zwei Abstimmungen am selben Tag die waffeldünne konservative Mehrheit zu stützen).

Alle haben vermutlich das Foto der Woche gesehen, auf dem die britische Delegation mit völlig leeren Händen einem mit dicken Papierstapeln bewaffneten EU-Team gegenübersitzt. Das DExEU informierte später die Presse, das Bild sei gemacht worden, bevor Davis und Kollegen ihre Akten aus den Taschen gefischt hätten (übrigens nicht im Bild, die eine einzige Frau im britischen Verhandlungsteam).

Brexit Verhandlungen mit Michel Barnier und David Davies

THIERRY CHARLIER / AFP

Wir können also die Zeit, die Davis bei der Foto-Session aktenfrei verbrachte, von seiner Teilnahme an den Verhandlungen abrechnen. Wie viel Zeit genau, das erfuhren wir aus dem Twitter-Feed von Fraser Nelson, dem in alles eingeweihten Chefredakteur des treu konservativen Wochenmagazins The Spectator (auf dessen Seiten derzeit zwischen Tory-Kolumnist_innen übrigens die Messer fliegen wie noch nie, nur so als Tipp, falls jemand Freude an öffentlichen Gemetzeln hat). Nelson ist einer, der bei Bedarf Statistiken findet, laut denen oben zitierter Brexodus gar nicht stattfindet, sondern stattdessen immer noch die Immigrant_innenscharen aus der EU nach Britannien drängen, weil dort bekanntlich die Zukunft liegt. Er ist ein Mann, der genau weiß, was er sehen will.

Im Affekt hat Nelson zu besagtem Foto von den Verhandlungen zunächst dies getweetet:

„Das Bild fasst es zusammen. Tische stöhnen unter sinnlosem EU-Papierkram, während nur die grundlegenden Fakten gebraucht werden. Symbolisiert, was wir nicht vermissen werden.“

Dann hat er seinen gewitzten Kommentar gleich wieder gelöscht (vielleicht, weil Davis selbst die Brexit-Verhandlungen als „so kompliziert wie die Mondlandung“ bezeichnet hat und deren Route ja erwiesenermaßen auch nicht nur per Kopfrechnung kalkuliert wurde) und durch einen anderen, noch ein bisschen schlaueren Tweet ersetzt:

„Dieses Bild wurde während eines 30-minütigen Begrüßungstreffens gemacht, für das keine detaillierten Gespräche anberaumt waren. Nur eine Fotogelegenheit und Hallo-Sagen. Warum also der EU-Papierkram?“

Die Frage außer Acht lassend, wie man eigentlich drauf sein muss, um zu glauben, Leute tragen dicke Papierstapel mit sich herum, um andere dumm aussehen zu lassen, erfahren wir daraus immerhin, dass David Davis, wenn er in Brüssel 30 Minuten lang „Hallo“ sagte und sein Aufenthalt dort wirklich nur 45 Minuten dauerte, tatsächlich nur 15 Minuten lang mit Barnier verhandelt haben kann. Das, meinte das DExEU nachher, sei aber immer so geplant gewesen. Und im Übrigen lebe man nicht mehr im Zeitalter der Brieftauben. Seine Delegation wird Davis also wohl mittels modernster Kommunikationsmethoden am Laufenden gehalten haben.

Während er sich in London den offenen Scharmützeln in Theresa Mays bröckelndem Kabinett widmete (manche trauen ihm gar die baldige Machtübernahme zu), wird er zwischendurch einen Blick in sein Brüsseler Skype-Window geworfen haben. Vielleicht bekam er dabei sogar mit, dass die EU-Seite in Brüssel mit dem zwischenzeitlichen Abbruch der Verhandlungen drohte, falls die Briten nicht gewillt seien, einen klaren Standpunkt zur Höhe der Ausstände gegenüber der EU vorzulegen (in Fairness zu den armen, von ihrem Chef in Brüssel zurückgelassenen Beamten - und der Beamtin - des DExEU muss man ja sagen, dass es einen solchen bisher schlicht nicht gibt, ihnen blieb also gar nichts anderes übrig, als sich am Klo zu verstecken).

Auch in Sachen der Rechte von EU-Bürger_innen in Großbritannien und britischer Emigrant_innen in der EU konnte bei dieser zweiten Runde nichts zustande kommen, weil die Briten nach wie vor nicht akzeptieren wollen, dass diese unter Aufsicht des Europäischen Gerichtshofs stehen. Und weil sie zwar wollen, dass Brit_innen in der EU frei das Gastland wechseln dürfen, umgekehrt EU-Bürger_innen aber nicht gestatten wollen, Großbritannien für mehr als zwei Jahre zu verlassen und danach mit denselben Rechten zurückzukehren - kein Platz in Brexitannien für in der Weltgeschichte herumschwirrende Kosmopolit_innen.

Die späte Einsicht, was für ein gewaltiges Ei man sich mit dem von Theresa May angekündigten Ausstieg aus dem Euratom-Abkommen gelegt hat (nicht nur der Betrieb britischer Kernkraftwerke, auch der Import medizinischer Isotope für die Krebsbehandlung sind gefährdet), inspirierte das DExEU wiederum zu einer kreativen Drohung: Entweder Großbritannien kriegt einen Sonder-Deal, oder die Wiederaufbereitungsanlage Sellafield schickt radioaktive Materialien zurück an ihre Ursprungsländer in der EU. Eine interessante Idee, schließlich gehört Sellafield einem britisch-französisch-amerikanischen Konsortium, das dafür erst im Auftrag der britischen Regierung vertragsbrüchig werden müsste. Was aber noch mehr erstaunt, ist die schiere Arschloch-Aggression, die aus so einer Taktik spricht. So verhandeln eigentlich nur Kriminelle. Und auch das nur im Film.

Als der Donnerstag kam, hielt Davis jedenfalls sein Wort, kam für die Pressekonferenz zurück nach Brüssel und erklärte sich „zufrieden mit den Fortschritten, die wir gemacht haben“, auch wenn er selbst nicht dabei gewesen war. Bemerkenswert dabei sein Statement zum Problem der irisch-nordirischen Grenze: Dazu gebe es eine vielversprechende „Diskussion“ und noch keine „Arbeitsgruppe“. Na ja, sind ja auch noch zwanzig Monate Zeit, bis die im Karfreitagsabkommen garantierte offene Grenze auf die Post-Brexit-Realität einer harten Zollgrenze trifft.

Am Besten gefiel mir aber der zwischendurch bedeutungsschwer eingestreute Zwischensatz „Which moves me onto the substance“, selbstverständlich gefolgt von den üblichen gänzlich substanzlosen Allgemeinplätzen.

Vielleicht ist ja auch alles ein Missverständnis, und Davis sprach eigentlich von ganz anderen Substanzen, denen er sich da zuwendet. Das würde immerhin sein befreites Verhältnis zur Realität erklären.

Vor den Verhandlungen hatte es in der vom Brexit berauschten britischen Presse ja geheißen, er sei ein ausgebildeter Kämpfer der SAS-Elite-Einheit der Britischen Reservearmee, als solcher im Nahkampf geeicht und damit ideal für die harten Bandagen in Brüssel gerüstet (sogar Breitbart nannte ihn anerkennend einen „SAS hardman“). Damals fragte man sich: Geht’s noch depperter?

Man staunt, aber die Antwort ist offenbar immer ja.

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