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Der gerechte Paul

Niemand wollte der Pfleger des bösartigen alten Malers sein. Bis Paul auf den Plan getreten ist.

Von Todor Ovtcharov

Obwohl wir mitten im Sommer sind, ist das hier eher eine Weihnachtsgeschichte. Vor allem deshalb, da die Geschichte aus dem „Heiligen Land“ kommt und dort passieren bekanntlich immer wieder Wunder. Eine Freundin erzählte mir diese Geschichte, die sie von der Tochter des Mannes, um den es geht, gehört hatte. Dieser Mann war Professor an der Kunstakademie von Tel Aviv, einer der bedeutendsten israelischen Maler und Bildhauer. Geboren wurde er in Osteuropa, er überlebte den Holocaust und zog nach dem zweiten Weltkrieg nach Israel. Ich weiß nicht, woran es lag, aber er war ein besonders bösartiger Mensch. Er hatte einen eisernen Charakter und kommandierte alle Menschen um ihn herum. Keiner seiner Verwandten konnte ihn länger als fünf Minuten aushalten. Und er war auch kaum auszuhalten: Er mischte sich rücksichtslos ins Leben seiner Verwandten ein.

Das Alter

Im hohen Alter wurde es noch schlimmer. Als er schon über 90 war, hat er jemanden gebraucht, der ihn pflegt. Jemand, der ihn füttert, für ihn einkauft, ihn badet. Aber auch kein Pfleger konnte ihn länger als einen Arbeitstag aushalten. Der Rekord war ein Pfleger, der gekündigt hat, gleich nachdem er die Wohnung des bösen Malers betreten hat. Und warum sollte jemand nicht kündigen, der schon an der Eingangstür mit dem Geschirrspülschwamm beworfen und getroffen wird?

Rumpf und Arm eines alten Mannes mit Gehstock

Gemeinfrei

So ging das dahin, bis Paul erschienen ist. Paul war ein ausgebildeter Krankenpfleger aus den Philippinen. Der alte Mann versuchte ihn gleich mal zu entmutigen, indem er ihn mit seinem Gehstock zum Stolpern gebracht hat. Es war ein Wunder, dass sich Paul nicht die Nase gebrochen hat. So lief fortan das Leben der beiden dahin: der alte Mann terrorisierte Paul, der immer nur mit einem Lächeln antwortete. Paul arbeitete jahrelang, ohne einen freien Tag, und ohne sich zu beschweren. Der Alte wurde fast 100. In all den Jahren, in denen er beim bösen Professor gearbeitet hatte, kam er kein einziges mal in seine Heimat zurück.

Das Testament

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Eines Tages starb der Professor dann doch. Seine Töchter haben es kaum erwartet, sein Testament zu öffnen. Doch als es soweit war, stellten sie mit Verwunderung fest, dass der alte Mann Alles, das er hatte – Immobilien, Bankkonten und seine Kollektion an Kunstwerken - seinem philippinischen Krankenpfleger vererbt hatte. Die Töchter bekamen nur ein Bild aus der abstrakten Periode ihres Vaters.

Paul wurde reich. Er sagte, dass er zurück in die Philippinen zieht. Vorher aber teilte er das geerbte Vermögen unter den Töchtern des Professors auf. Sie konnten es kaum glauben. Mit seinem ewigen Lächeln sagte er: „Danke, dass Sie mich ausgewählt haben, ihren Vater zu pflegen. Ich bekam ein gutes Gehalt dafür und habe in den ganzen Jahren keinen Scheckel mehr gebraucht. Das reicht mir. Ich werde wahrscheinlich nie wieder einen so guten Mann wie Ihren Vater treffen. Ich ziehe zurück in die Philippinen. Ich bin vor meinen Verwandten dort weggelaufen, doch ich weiß jetzt, dass sie mich brauchen!“

Das ist eine wundersame Geschichte aus dem Land des gerechten Ijobs.

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