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Szenenbild "Die Theorie von Allem"

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Vielweltenschmerz

Ein Spiegelkabinett der Filmgeschichte, eine Referenz-Karussellfahrt, vor allem aber ein herausragend-originärer Film. Wer sich Timm Krögers „Die Theorie von Allem“ nicht anschaut, versäumt Großes.

Von Pia Reiser

Es gibt Filme - und es sind mitunter die schönsten, die einem so im Laufe eines Lebens begegnen - die enden nicht mit dem Abspann, die wabern wie gallertartige Masse mit einem aus dem Kinosaal raus und legen sich über die Welt drüber. All das, was vor dem Kinobesuch da war - in meinem Fall also Wien, Oper, Karlsplatz, der Ring, ist alles noch da, als ich aus dem Kino komme, aber irgendwie hat dieser Film, „Die Theorie von Allem“ abgefärbt.

Eine Dame mit einer umgeschlungenen Pelzstola nickt mir am Gehsteig freundlich zu, als würden wir uns seit Ewigkeiten kennen, ein Hund mit geradezu absurd blauen Augen sitzt in einem Schaufenster. Eventuell blinzelt er mir zu. Der Film ist so schön, ich bin noch gar nicht wieder in der echten Welt angekommen, schreib ich der Pressebetreuung des Films, dann setze ich mich auf eine kleine Mauer hinter einer recht hitchcockigen Ziegelstein-Kirche (quasi Ambrose Chapel), esse Linzertorte und freu mich, im Presseheft auf ein Wort zu stoßen, das ich mir mit Fragezeichen während des Films aufgeschrieben hab.

Timm Kröger zu Gast im FM4 Film Podcast

Schnee, Doppelgänger, Mystery und Liebe: All das und viel mehr findet man in Timm Krögers Film „Die Theorie von Allem“. Ein Film, der an vielen Momenten der Filmgeschichte anstreift, ohne aber je angeberisches Zitatekino zu sein. Mit Jan Hestmann und Pia Reiser spricht Timm Kröger über seinen Film, eine geplante Trilogie – und seine filmischen Prägungen. Warum er Steven Spielbergs „Hook“ für ein Meisterwerk hält, welcher Film ihm Angst eingejagt hat und warum „Die Theorie von Allem“ eigentlich eine kafkaeske Indiana-Jones-Variation ist.

Am 13. November 2023 ist „Die Theorie von Allem“-Regisseur Timm Kröger zu Gast im FM4 Filmpodcast.

Ein Fragezeichen setz ich ins Notizbuch im Kinosaal kritzelnd deswegen hinter Kästner, weil ich die Tendenz habe, schnell mal wo Erich-Kästner-Anklänge zu sehen, wo vielleicht auch gar keine sind. Timm Kröger aber - der Co-Drehbuchautor und Regisseur von „Die Theorie von Allem“, der lässt auch den Namen Kästner fallen, wenn er über seinen Film redet. Überhaupt fallen nur Namen und Begriffe, die in meiner Welt eine große Rolle spielen, wenn es um diesen Film geht - von Alfred Hitchcock bis Orson Welles, von einem Bernard Herrman-artigen Score bis zu einer Nouvelle Vague-Frisur, dennoch wären all diese Elemente uninteressant, wenn sie nicht so handwerklich exzellent, das Alte kennend doch was Neues erbauend, eingesetzt worden wären. Denn mit all den Genre-Lassos, mit denen man das herrliche Ungetüm von diesem Film beschreibend einzufangen versucht - von Mystery über Thriller zu Film Noir - wird man ihm doch nicht gerecht.

Man richtet fasziniert den Blick auf die Leinwand, so wie Jan Bülow als Physik-Student Johannes Leinert in „Die Theorie von Allem“ auf die Wolken starrt, die sich über dem pittoresken Hotel in den Schweizer Alpen merkwürdig formieren. Das Idyll ist ja im Film nur interessant, wenn es gestört wird und so breitet sich trotz Kaiserwetter, Postkarten-Alpenpanorama und weiß glänzendem Schnee Unbehagen und Irritation aus. Eigentlich sollte ja ein Physik-Kongress stattfinden, aber der wird dann abgesagt, weil der Vortragende nicht kommen kann. Passieren tut trotzdem so Einiges. Johannes sieht Doppelgänger, Menschen verschwinden, im Berg rumort es und wie immer wissen am schnellsten die Kinder, was hier eigentlich los ist. Johannes behält dabei meist die fast stoische Ruhe eines Film Noir-Mannes, er selbst schreibt an seiner Doktorarbeit über die Vielweltentheorie, das heißt, er weiß, dass es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.

Szenenbild "Die Theorie von allem"

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Was nützt außerdem all die Schulweisheit, wenn man sich verliebt? Johannes trifft auf die Hotel-Pianistin Karin (Olivia Ross) und es ist um ihn geschehen, doch um ihn herum geschehen eben weiter irritierende Dinge, die Ermittler - stets mit Hut - blasen Rauchringe in die Luft und sprechen von Opfern mit „Halswirbeln in extraordinairer Position“, von „Unfällen, die vermutlich gar keine Unfälle waren“. Als einer der Kommissare spricht, triffts mich wie ein Blitz, ein Erinnerungsschwall wird ausgelöst und mein Hirn formiert den Gedanken Oskarchen, denn David Bennent spielt einen der Kommissare und dessen Stimme hat sich, seit ich als Kind „Die Blechtrommel“ gesehen hab, in mir festgesetzt.

„Die Theorie von Allem“ setzt alle Rädchen in Gang, um als Unterhaltungsfilm zu funktionieren, es ist aber gleichzeitig auch ein Rorschach-Test (Timm Kröger erzählt auch, dass Leute Referenzen zu Filmen sehen, die er gar nicht kennt) und vor allem aber ein Erinnerungs-Spiegelkabinett. Erinnerungen sind vermutlich überhaupt ein essentielles Wort, wenn man über diesen Film spricht, denn „Die Theorie von allem“ wirkt oft wie von jemandem gemacht, der jetzt nicht penibel Filme studiert hat und etwas imitiert, sondern wie von jemandem, der sich an Filme erinnert, die er vor langer Zeit gesehen hat und diese Erinnerung nun auf die Leinwand bringt.

Erinnerungen - gerne auch verdrängte - spielen auch in den Filmen von Alfred Hitchcock eine wichtige Rolle, der Name „Hitchcock“ wird gerne mal in die Hand genommen, wenn es geht einen Thriller zu adeln, wenn mal wieder jemand zum Motiv des wrong man oder der cool blonde greift, doch Timm Kröger setzt seinen Film gar nicht mit dem klassischen Technicolor-Hitchcock in Verbindung, sondern mit früheren Werken wie „Spellbound“, „Notorious“ oder auch „Rebecca“. Die Art, wie sich die Kamera bewegt, wie eine Kussszene inszeniert wird oder auch nur, wie die Atmosphäre eines Hauses eine große Rolle spielt, kann einen bei „Die Theorie von Allem“ an Hitchcock denken lassen, doch ist es nie ein Zitat um des Zitierens oder gar der Klugscheißerei Willen. Richtig spitze wird das Hitchcock-Atmosphärige ja auch dann, weil Kröger in eine Richtung abbiegt, in die Hitchock nie abgebogen ist: Mystery oder ist es einfach nur Quantenphysik?

Szenenbild "Die Theorie von allem"

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Ich liebe die Ananas am Tisch.

Auch alle (vielleicht auch eingebildeten, halbrichtig erinnerten) Film Noir-Ankläge sind ja leicht entrückt, weil der Film Noir ja ansich ein Genre ist, das im Urbanen blüht und gedeiht (auch hier gibt’s Ausnahmen, siehe „The Night of the Hunter“ und „The House by the River“) und auch Mystery, die die Grenzen des Rationalen hinter sich lässt, findet man nur selten im Film Noir, umso mehr kann man im Umgang mit Lichtquellen und Schatten in „Die Theorie von Allem“ vielleicht weniger Referenzen als Wertschätzungen für dieses Genre finden, und in einigen schrägen Kamerawinkeln steckt eine Grußkarte an Orson Welles.

All das verbaut aber nie den Blick darauf, dass „Die Theorie von Allem“ ein komplett originärer Film ist. Und was für ein Film! Hypnotisch, fantastisch, mit Feingefühl für Sprache und visuelle Opulenz mit großem Gespür für den Umgang mit Geheimnissen und dass nicht jedes Rätsel eine lupenreine Aufklärung braucht. Ein Film, der sich beim Wissen um alte Filme bedient, aber keine Sekunde lang die Fahnen der Nostalgie hochhält, ein filmisches Wunderwerk mit wundervollen Darsteller:innen und definitiv einer meiner Lieblingsfilme 2023.

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