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"Fern von Europa"

Löwenzahn Verlag in der Studienverlag Ges.m.b.H

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„Tirol ohne Maske“

Das anti-tirolische Pamphlet „Fern von Europa“ von Carl Techet ist 111 Jahre alt und hat eine beispiellose Rezeptionsgeschichte hinter sich.

Von Boris Jordan

Der Schriftsteller und Chemielehrer Carl Techet unterrichtet im Kufsteiner Gymnasium, ist dort auch bei Schülern und Kolleg*innen angesehen, doch die Kufsteiner bürgerliche Gesellschaft will sich ihm nicht so recht erschließen. Der demokratisch-liberal (und später, was nicht so unüblich war, wie man heute glauben möchte, deutschnational) gesinnte Wiener wird mit der Tiroler Mentalität der Zeit nicht so recht warm und beschließt, seiner Verwunderung und seinem Unmut über den „Charakter“ seiner Gastgeber*innen, in einer satirischen Schrift Ausdruck zu verleihen.

„Fern von Europa“, von Techet unter dem Pseudonym Sepp Schluiferer verfasst, erscheint 1909 - 100 Jahre nach dem in Tirol als sinnstiftend empfundenen Sieg der Tiroler Bauern und Schützen über die napoleonischen Revolutionsarmeen und deren Bayrische Verbündete - und wird als ein derartig nestbeschmutzender Literaturskandal empfunden, dass zeitgenössische Kommentatoren sogar empfehlen, den „Strolch allerordinärster Sorte […], für dessen Charakterisierung das Wort Schweinehund noch viel zu gut ist“, zu lynchen („wer dieses Scheusal tötet und zu Aas macht, der sei gepriesen"). So muss Techet nach seiner Enttarnung auch um sein Leben fürchten. Er flieht zuerst nach München und wird dann nach Mähren strafversetzt.

"Fern von Europa"

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Die Schmähschrift „Fern von Europa“ ist in einem Münchner Verlag erschienen und war lange vergriffen, das Belegexemplar konnte in der Tiroler Landesbibliothek lange nur nach Vorgabe von speziellen Gründen entlehnt werden. 1984 ist „Fern von Europa“ in einer Neuauflage bei der Innsbrucker Edition Löwenzahn erschienen, seitdem kann es dort wohl als „Kultbuch“ bezeichnen, das in kaum einem belesenen Tiroler Haushalt fehlt.

Die Tarrola

"Fern von Europa"

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Techets „Tarrola“ sind nur wenig liebenswert. So wird einem deutschen „Zuagroasten“, der sich in Tirol und in eine Tirolerin namens „Purgl“ verschaut, ein uneheliches Kind angedichtet, das schon vorher beim „Fenschterln“ von „Purgl“ mit „Waschtl“ entstanden sein dürfte.

"Purgl lernte einen preußischen Legationsrat kennen. Er war „von“, Witwer, hatte eine große Glatze, zerstörte Nerven vom Aktenlesen und zudem eine bedeutende Erbschaft. Oftmals empfand er im Gehirn einen stechenden Schmerz und konnte dann tagelang nichts denken. Die Ärzte rieten ihm Landluft und Spaziergänge an. Das brachte ihn nach Tarrol.

Dort ging er denn täglich spazieren, „janz nach Landesart jekleidet". Wenn ihn der stechende Schmerz im Gehirn verließ, hatte er stets denselben Lieblingsgedanken: Für einen Einheimischen gehalten zu werden. Darum ging er in die Messe, begleitete die Prozessionen, rauchte lange Pfeifen und kaute Tabak, um schön braun ausspucken zu können.“

Ein Schelm, wer da nicht an die Familie Sattmann in der „Piefke Saga“ denken muss.

Ein anderer, ein „friedlicher Deutscher und Bahnbeamter“ wird, nachdem die „Tarrola“ bemerkt haben, dass er nicht regelmäßig zur Messe geht, geächtet und beschimpft, ihm werden Speis und Trank verweigert, wie etwa vom Krämer („Pockchts ‚n o‘, den vahextn, glosaugaten Zoddel“), vom Dorfwirten („daß d’ außi kchemmst, haidnischer Teifi du! Fir di how i nix z’essn und z’trinkch’n, Wer si’ bei mia ansauffn wü’, däa muaß enda in d’ Kerchch’n gähn! Außi, du höllischer Satanas!“) und der Bäckerin („Gehscht wekch! Mir bockch’n fir koane haidnischen Stodtfrackch nöt!“). Schließlich wird der Ungläubige von seiner Gastfamilie mit Besen, Heugabeln und Äxten vertrieben bis er, einsam und fast verhungert, am Feld erfriert.

"Fern von Europa"

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Schon der Titel des Buches lässt erahnen , dass der „Zuagroaste“ in punkto Weltoffenheit und Modernität nicht eben große Stücke auf die „Tarrola“ zu halten scheint. In verschiedenen, scheinbar selbsterlebten Episoden, „erfindet“ Techet nahezu im Alleingang sämtliche Zuschreibungen, die seither (und ungeschrieben womöglich schon früher) auf die „Tarrola“ und „Tarrolarinnen“ angewandt werden: Dummheit, mangelnde Körperhygiene, Inzest, Trunksucht, Notgeilheit, Frömmelei, Gewaltbereitschaft, Sturheit, Doppelmoral, Begriffsstutzigkeit, Bildungsferne und Konservativismus. Kombiniert mit jenen – in diesen Zeiten des beginnenden Tourismus nahezu neuartigen, seither fest im Klischee verankerten – Eigenschaften, die gerade in Zeiten von Ischgl und Agrargemeinschaften eine traurige Aktualität erleben: Hinter Vorauseilender Servilität versteckte Fremdenfeindlichkeit (vor allem gegen „Jud’n“, „Proteschtant‘n“ und „Sozi“), hinter „Geradlinigkeit“ versteckte Doppelzüngigkeit, Obrigkeitshörigkeit, Vetternwirtschaft, Geldgier (wobei Tirol zu Zeiten Techets eine der ärmsten Regionen Europas war), Hinterlist, und das alles überstrahlende Rechtfertigungsdogma „Mia san Mia“, das (beileibe nicht nur in Tirol) für viele Schweinereien herhalten musste und muss.

"Denn tarrolische Eigenart ist ein köstliches Gut. Mit Recht sagt darum das Volk: „Tarrol den Tarrolan!" - Ich werde nie zu denjenigen gehören, die es ihnen nehmen wollen, niemals!“

Nicht zuletzt der Erfolg der „Piefke Saga“ beruht auf dem Spiel mit den obengenannten Eigenschaften, die dort – eindimensional wie bei einem bäuerlichen Schwank und daher ähnlich leicht verständlich – zum modernen, korrupten Tirolbild beigetragen haben.

Techet bedient sich bei „Fern von Europa“ des Tricks von Mark Twain (in „Innocents abroad“), gegenüber allem Beobachteten und den pittoresken Gebräuchen der Eingeborenen die wohlwollend- distanzierte, mild-interessierte Haltung des erstaunten Ethnografen einzunehmen, ja all dies sogar als putzig zu kommentieren, während man die Rückständigkeit der Portraitierten aus den Originalzitaten selber destillieren darf. Das Ganze ist wie ein Reiseführer gedacht, der dem weltoffenen Bürger des Fin de Siècle (hier als „Europäer“ bezeichnet) zu dessen Erstaunen erklärt, dass es zwischen den Bergen noch Gegenden gibt, die es gemeistert haben, von Aufklärung und Modernität noch so überraschend wie erfrischend unberührt geblieben zu sein.

Ludwig Thoma („Ein Münchner im Himmel“) Herbert Rosendorfer („Briefe in die chinesische Vergangenheit“), und Reinhard P. Gruber („Aus dem Leben Hödlmosers“), sowie die TV-Mockumentary „Das Fest des Huhns“ von Walter Wippersberg bedienten sich eines ähnlichen Erzähltricks.

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Auch die berühmten Tirol-Impressionen von Goethe (der auf dem Weg nach Italien „über Tirol geflogen“ ist und sich mehr für die Tektonik als die Mentalität interessierte) und Heinrich Heine („Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav, und von unergründlicher Geistesbeschränktheit. Sie sind eine gesunde Menschenrasse, vielleicht weil sie zu dumm sind, um krank sein zu können.“) dürften „Fern von Europa" inspiriert haben.

Fazit

Diese Anekdoten, sämtlich in einem lautmalerischen Gesamttirolisch verfasst, das das Lesen selbst für dort Geborene nicht gerade leicht macht, zeichnen sich mehr durch Drastik als durch Subtilität aus. Auch dies mag den Hauptfiguren geschuldet sein, der Unterhaltungswert dieser doch recht grob geschnittenen Polemik besteht den Test der Zeit nicht sehr gut. Oft findet man zwar nicht nur Tiroler, sondern allerlei selbst erlebte Dumm- und Sturköpfe in Techets rotgesichtigen Figuren wieder, die 110 Jahre merkt man dem Ding aber schon an. Das Lachen über die „Tarrola“ bleibt einem auch Tiroler nicht wirklich im Halse stecken - es kommt oft gar nicht so weit.

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