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Truppen-Mobilmachung in Wien vor dem Ersten Weltkrieg

CC BY 2.0

Buch

„Die Inkommensurablen“ von Raphaela Edelbauer: Letzte Stunden bis zum Weltkrieg

Nach „Das flüssige Land“ und der K.I.-Geschichte „Dave“ ist nun Raphaela Edelbauers neuer Roman erschienen. Er spielt Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien und schildert die letzten Stunden vor Ausbruch des ersten Weltkrieges.

Von Daniel Grabner

„Deutschland hat Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule.“ steht in Franz Kafkas Tagebucheintrag vom 2. August 1914. Diesem lakonischen Tagebucheintrag hat Kafka noch einige kritische folgen lassen, die sich auch gegen die Kriegseuphorie der Menschen richtete, welche sich in Umzügen und Paraden niederschlug: „Ich stehe dabei mit meinem bösen Blick. Diese Umzüge sind eine der widerlichsten Begleiterscheinungen des Krieges.“

Coverbild: Postkarte einer Truppen-Mobilmachung in Wien vor dem Ersten Weltkrieg, CC BY 2.0

Die Handlung von Raphaela Edelbauers Roman setzt nur wenige Tage davor ein. Am 30. Juli 1914 kommt Hans Ranftler am Wiener Südbahnhof an und ist überfordert: Menschenmassen, fremde Sprachen, die Großstadt. Zum ersten Mal in seinem Leben sieht der siebzehnjährige Bauernknecht aus Tirol eine Tram. Es ist dieselbe Überforderung, mit der sich ein Franz Biberkopf in Alexander Döblins „Berlin Alexanderplatz“ nach Jahren der Inhaftierung überwältigt vom technologischen Fortschritt wie ein Zeitreisender durchs geschäftig pochende Herz der urbanen Moderne treiben lässt.

Alexander Döblin hat „Berlin Alexanderplatz“ 1926 geschrieben, darin die Eindrücke seiner Gegenwart verarbeitet und Weltliteratur geschaffen. „Die Inkommensurablen“ ist auf den ersten Blick ein historischer Roman über das Wien der k.u.k.-Monarchie am Vorabend des ersten Weltkrieges, zeitlich verortet an einem spezifischen Punkt in der Geschichte Europas: Kurz vor jenem Krieg, in dem zum ersten Mal Massenvernichtungswaffen, Panzer und Kampfflugzeuge zum Einsatz kommen werden, ein Krieg, der rund 17 Millionen Menschenleben fordern wird.

Raphaela Edelbauer

Apollonia Bitzan

Raphaela Edelbauer

Wien im Kriegstaumel

Raphaela Edelbauer lässt ihren Protagonisten durch eine euphorisiertes, spannungsgeladenes Wien stolpern. Der Leser / die Leserin sieht dieses Wien der Jahrhundertwende durch die staunenden Augen des Tiroler Pferdeknechts. Detail- und facettenreich wird die Stadt geschildert, in kurzen eingeschobenen Kapiteln macht Edelbauer Wiener Stadtgeschichte vor 1914 erfahrbar, man liest von der Heimsuchung durch die Pest, vom Bau der Ringstraße auf dem Glacis, oder von der Entstehungsgeschichte der Votivkirche. Die Kriegsbegeisterung hat viele Männer in die Hauptstadt geführt, um sich für den Fronteinsatz zu melden. Doch nicht Hans Ranftler, er ist nach Wien gekommen, weil er sich einer Psychoanalyse unterziehen möchte, denn der Pferdeknecht aus Tirol hat eine seltsame Gabe: Er kann die Gedanken anderer lesen, kurz bevor diese sie aussprechen.

Ein ungleiches Trio

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen Cover

Klett-Cotta

Raphaela Edelbauer: „Die Inkommensurablen“ ist bei Klett-Cotta erschienen. Eine Leseprobe gibt es hier.

Durch die Psychoanalytikerin Helene lernt Hans den jungen adeligen Offizier Adam und die lesbische Mathematikdoktorandin Klara kennen. Auch diese beiden haben eigentümliche Fähigkeiten. Adam trägt die Erinnerungen anderer Menschen in sich und Klara ist Teil eines sogenannten Traumclusters. Sie und die anderen Mitglieder dieses Clusters träumen jede Nacht denselben Traum. Klara wird am nächsten Tag ihr Rigorosum bestreiten und einen Vortrag über irrationale Zahlen halten, Adam wird einrücken und Hans seine Psychoanalyse beginnen. Bis dahin ziehen die drei wie in einem schlaflosen Roadmovie durch das Wien Anfang des 20. Jahrhunderts, treffen auf Strizzis, Prostituierte, Offiziere und Adelige, nehmen Drogen, raufen, trinken, schmusen, debattieren und schaffen es letztendlich am nächsten Tag gerade noch, Klara Zugang zur Universität zu verschaffen, die von Burschenschaftlern blockiert wird.

Die Verlaufsgesetze der Weltgeschichte

Wie in Edelbauers Debütroman „Das flüssige Land“ und vor allem in „Dave“ ist in die Geschichte und in den Fragestellungen, die sie aufwirft, jede Menge Theorie eingebaut. Ging es in „Dave“ beispielsweise um die Frage nach der Verfasstheit von (künstlichem) Bewusstsein, versetzt mit Thesen aus Philosophie und der K.I.-Forschung, beschäftigt sich Edelbauers aktueller Roman mit der Dynamik zwischen dem / der Einzelnen und dem Kollektiv und fragt im weitesten Sinne nach den Verlaufsgesetzen von Geschichte. Es geht um Zeitgeist, Weltgeist, um den Status von abstrakten Ideen wie Nationalismus, und wie sie eine ganze Epoche befallen können, und spannt dabei Bögen von Platons Ideenlehre, Leibniz’ Monadismus, Freuds Psychoanalyse und Gottlob Freges semantische Theorien.

Dabei schreibt Edelbauer großartige Dialoge, wie die Diskussion beim Dinner von k.u.k.-Offizieren, in der die Widersprüchlichkeit des Bekenntnisses zum monarchistischen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn auf Nationalismus und Antisemitismus aufeinandertreffen, oder auch ein Streitgespräch zwischen Klara und Adam über den Unterschied zwischen dem Übersinnlichen und dem Übernatürlichen.

Ein Funken Hoffnung

Nicht zuletzt ist „Die Inkommensurablen“ auch eine feministische Emanzipations-Geschichte. Man erfährt, dass sich Klara aus den ärmsten Verhältnissen befreit hat und als Teil einer neue Generation von Frauen aus alten Rollenbildern ausbricht. Das wird auch Hans bewusst, als er ihr Rigorosum besucht:

„Er hatte keine Begriffe, um sich zu erklären, wie, doch unter den Frauen, die da saßen – manche mit den großen, ausladenden Hüten des vergangenen Jahrhunderts und den schweren Ringen alter Adelsgeschlechter, andere wieder in ganz einfachen Arbeiterinnenkleidern – , war eine Gemeinsamkeit, die unverkennbar war. Sie nahmen sich Raum. Sie waren Raum.“
(Die Inkommensurablen, S 306)

Hans Ranftler meldet sich am Ende doch für den Kriegseinsatz. „Die Inkommensurablen“ hat auch andere Akteure dieser Zeit im Blick, was diesem trostlosen Ende etwas Hoffnungsvolles verleiht.

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