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Comic: Das Schimmern der See von Adrian Pourviseh: Auszüge & Cover

Avant Verlag

Comic „Das Schimmern der See“

72 Stunden Seenotrettung

Vor zehn Jahren sind bei einem Schiffsunglück vor Lampedusa 368 Bootsflüchtlinge verbrannt oder ertrunken. Zum Jahrestag erscheint ein Comic, das die Seenotrettung auf dem Mittelmeer aus der Perspektive der Retter zeigt. Eine schonungslose Dokumentation gegen das Wegschauen.

Von Paul Pant

Die Bilder der aufgereihten 368 Särge in einem Hangar des Flughafens von Lampedusa haben Europa nach dem Bootsunglück am 3. Oktober 2013 wachgerüttelt. Darunter das erdrückendste Bild: Weiße Kindersärge, auf die IKEA-Teddybären mit einem roten Herz auf der Brust gesetzt wurden. Eine Seemeile vor der rettenden „Haseninsel“ Isola dei Conigli vor der italienischen Insel Lampedusa verunglückte das Flüchtlingsboot mit über 500 Menschen an Bord. Ein Feuer brach aus, das Boot kenterte.

Die Ereignisse lösten eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Politiker in ganz Europa gelobten Hilfe. Der damalige EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso erklärte, dass so eine Katastrophe nie wieder passieren dürfe. Zehn Jahre später ist von diesem Geist der europäischen Solidarität nicht mehr viel zu hören. Die gemeinsame Seenotoperation „Mare Nostrum“ ist Geschichte. Das Mittelmeer wird beobachtet, aber weitgehend den Flüchtlingen, der lybischen Küstenwache und spendenfinanzierten freiwilligen Seenotrettern überlassen. Wegschauen und Zynismus haben Rückenwind auf hoher See.

Comic: Das Schimmern der See von Adrian Pourviseh: Auszüge & Cover

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Keine Fotos

Der deutsche Autor und Aktivist Adrian Pourviseh hat nicht weggesehen. Im Sommer 2021 heuert er bei der Seenotrettungsmission „Sea Watch“ an. In Sizilien lernt er einige Wochen lang, wie man sich bei Seenotrettungen und bei gefährlicher See verhalten muss. Seine Aufgabe eigentlich: als Fotograf die Rettung von Flüchtlingen dokumentieren. Aber schon bei einem seiner ersten Einsätze muss er die Kamera beiseitelegen und Menschen aus dem Wasser ziehen. Ein Boot mit 400 Menschen an Bord läuft mit Wasser voll. Die umliegenden Versorgungsschiffe der Bohrinseln und die lybische Küstenwache kommen nicht zu Hilfe. 72 Stunden dauert dieser Einsatz, der Adrian Pourvisehs Leben verändert hat, wie er erzählt.

Traumatische Seenotrettung

Wie es sich anfühlt, einen Ertrinkenden aus dem Meer zu ziehen, kann Pourviseh im Interview nicht in Worte fassen. Aber in den Momenten des Durchatmens helfe es, seinen Gefühlen nachzugeben und einfach auch zu weinen, sagt der Koblenzer. Dass die Seenotrettungen für die Aktivistinnen und Aktivisten traumatisch sind, ist eine Perspektive, die Pourviseh zeigen will.

Allerdings hätten diese immer und jederzeit psychologische und medizinische Hilfe, sagt er. Ein Luxus, den die Geretteten nicht haben. Denn für sie bleibt der Überlebenskampf in der dunklen Nacht im Wasser oft ein lebenslanges Trauma. Diesen Kontrast zeigt Pourviseh, wenn im Comic seine autobiografische Figur Adrian seine Gedanken sammelt und ins Wasser springt. „Wir haben unseren europäischen Pass und unsere Privilegien. Ich kann das Meer noch genießen. Ich kann mein Leben weiterführen“, schreibt Pourviseh.

Comic: Das Schimmern der See von Adrian Pourviseh: Auszüge & Cover

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Keine „Schicksale“

In „Das Schimmern der See“ werden die Schicksaale der Geretteten nicht dokumentarisch aufgearbeitet. Sie zeigen sich oft nur schemenhaft in Momentaufnahmen, kurzen Dialogen und Gesprächsfetzen. Sie lassen das Grauen ihrer Flucht erahnen. Das könne auch nur angemessen von den Geflüchteten selbst erzählt werden, sagt Pourviseh. Diese Perspektive müsse man von Autorinnen und Autoren, die selbst Fluchterfahrungen gemacht haben, hören und sich erzählen lassen. Letzteres komme allerdings in der politischen Diskussion weitgehen nicht vor, sagt Pourviseh. Ein Punkt, der die Entmenschlichung der Flüchtenden als Zahlen in Asylstatistiken und das Wegschauen vom Sterben im Mittelmeer ermöglicht.

Comic: Das Schimmern der See von Adrian Pourviseh: Auszüge & Cover

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„Das Schimmern der See“ von Adrian Pourviseh erscheint am 5. Oktober 2023 im Avant Verlag

Als Comiczeichner ist Adrian Pourviseh ein Quereinsteiger. Ohne künstlerische Ausbildung oder Erfahrungen im Genre hat er sich an sein Buch gewagt. Das hatte nur einerseits mit seiner Zeichenleidenschaft zu tun. Es war auch dem Thema und den Erfahrungen auf der „Sea Watch 3“ geschuldet. Als Fotograf und Videograf hatte er auf dem Schiff keine Zeit, die Rettungsvorgänge zu dokumentieren. Das Retten der Menschen hatte immer Priorität, sagt er. Dazu sei bereits genug Foto und Videomaterial vom Leid der Menschen vorhanden. Als Comic könne man aber nicht nur Bilder zeigen, sondern auch Geschichten erzählen und eine andere Perspektive einnehmen, sagt der 28-Jährige.

Comic mit Standpunkt

„Das Schimmern der See“ zeigt den Standpunkt der Seenotretterinnen und Retter im Mittelmeer, es versteckt sich nicht hinter nüchtener Dokumentation. Es wird gezeigt, was ist, mit einer klaren Meinung zur Festung Europa. Ohne dabei die Erlebnisse der Aktivistinnen und Aktivisten mit Pathos zu diskreditieren.

Und es zeigt auch die Wut der Helfenden, die nicht wegschauen wollen und an ein Europa der Freiheit und Gleichheit glauben. Und viele von ihnen – auch Adrian Pourviseh - finden oft keine Antwort mehr auf die Schlüsselfrage im Buch, die von einem Flüchtling gestellt wird: „Wann kommen wir an?“

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