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Dem Opfer-Narrativ eine resiliente Figur entgegenstellen: „Die Stärkste unter ihnen“

Eine Missbrauchsbeziehung, die erst Jahre später von der Betroffenen als solche identifiziert und reflektiert wird. Selina Seemann schreibt in ihrem ersten Roman über ein Paradebeispiel für Grooming und stellt dem hilflosen Opfer eine resiliente Betroffene entgegen.

Von Alica Ouschan

Bekannt geworden ist sie durch Poetry Slams und auf Twitter, als es noch Twitter gab. Zu ihren größten Fans aus Österreich zählen Elias Hirschl und Resi Reiner. Jetzt hat Selina Seemann aus Flensburg ihren ersten Roman veröffentlicht. Und der ist alles andere als leichter Tobak - obwohl man das Leseerlebnis definitiv enjoyen kann, vor allem wenn man zum Beispiel Fan von ihren österreichischen Fans ist (durch deren Texte sich ebenfalls ein seltsam lebensbejahender Zynismus zieht).

„Die Stärkste unter ihnen“ ist eine krasse, ungeschönte aber dafür sehr empowernde Story, ein absolutes Paradebeispiel für „Grooming“. Damit diejenigen, die nicht wissen, was damit gemeint ist, jetzt mal nicht nachschlagen müssen, was das heißt, hab ich das Wort vorsorglich im urban dictionary eingegeben.

Das urban dictionary definiert „Grooming“ folgendermaßen: „Training, preparing or conditioning someone, usually over a longer period of time. Also used to refer to a paedophile’s process of building trust with a child, wearing down the child’s boundaries.“

Im FM4 Interview spricht Selina Seemann über ihre Entscheidung, dieses drängende und gleichzeitig so heikle Thema aufzugreifen, über die Art und Weise der Darstellung und die beiden involvierten Figuren.

Älter = Interessanter?

„Die Stärkste unter ihnen“ beginnt am Ende einer jahrelangen Missbrauchsbeziehung zwischen einem erwachsenen Mann, der eine Jugendgruppe in der Kirche leitet, und einem Kind, das gerade am Beginn des Erwachsenwerdens steht.

Er war viel älter als ich, aber ich spürte, dass zwischen uns etwas passieren würde. Magnetismus.

Milena ist 15, als sie Nick kennenlernt, der 21 Jahre älter ist. Aus ihrer Sicht entscheiden sich die beiden gemeinsam dazu, eine Beziehung auf Augenhöhe anzufangen. Milena fühlt sich schon vollkommen erwachsen und sieht sich in dem Moment des Beginns dieser Beziehung, die viele Jahre andauern sollte, dazu in der Lage, Entscheidungen zu treffen und ist sich den Konsequenzen ihres Handelns nach ihrem eigenen besten Wissen und Gewissen bewusst.

„Es geht darum, wie Milena sich stückweise aus dieser Beziehung befreit“, sagt Autorin Selina Seemann. Sie rollt den Verlauf der Beziehung und das Innenleben der Ich-Erzählerin Milena von hinten nach vorne auf. Was sofort auffällt: Wenn Milena ihre Erinnerungen reflektiert, tut sie das in einem sehr lockeren, fast schon gleichgültigen Ton. Selina Seemann beschreibt durch den Umgang ihres Charakters mit dem Erlebten eine klassische Traumareaktion. Sich selbst abschotten von der Person, die man war und den Emotionen, die man gefühlt hat, damit es einem im Nachhinein nicht noch mehr wehtun kann.

„Diese Figur erlebt wirklich das absolute, furchtbare Trauma und muss da irgendwie durchkommen“, sagt Selina Seemann über ihre Ich-Erzählerin. Es ist ein Coping Mechanismus, der durch die Art und Weise wie sie denkt und handelt erst erkennbar wird: Selbstschutz als erster Schritt. Anerkennen, was einem passiert ist, ohne davon retraumatisiert zu werden. Die Büchse der Pandora nur einen Spalt weit öffnen, um nicht überwältigt zu werden.

Die Büchse der Pandora nur einen Spalt weit öffnen

„Menschen, die sexualisierte Gewalt erfahren, vor allem im Kontext von Grooming, sind sich dessen meistens gar nicht bewusst“, erklärt Selina Seemann. „Man denkt ja nicht ‚Oh, das ist jetzt gerade sexualisierte Gewalt‘. Das sind junge Menschen, die Aufmerksamkeit bekommen von jemand Älterem und finden das spannend.“ Die Figur der Milena und ihre Beziehung zu Nick ist nicht nur schlecht. Sie ist verliebt und die beiden erleben auch viele schöne Momente, er gibt ihr ein gutes Gefühl - sonst wäre sie ja auch nicht mit ihm zusammen. Es geht um die sprichwörtlichen Zuckerl, die er für sie immer wieder ausstreut, um die unschönen Aspekte auszugleichen.

Buchcover: Die Stärkste unter ihnen"

Kremayr & Scheriau

„Die Stärkste unter Ihnen“ ist bei Kremayr & Scheriau erschienen.

Die Beziehung von Milena und Nick veranschaulicht sehr detailreich, wie toxisches Verhalten über Jahre hinweg normalisiert wird, bis es nicht mehr als solches identifizierbar ist. Dabei verzichtet Selina Seemann auf die großen, plakativen Aha-Momente und lässt die Sensibilität und Empathie beim Lesen langsam mitwachsen, so dass man gar nicht merkt, wo das Trauma der Figur aufhört und der eigene Schmerz beginnt.

„Es baut sich über Jahre auf, dass Nick Milena nicht als eigenständige Person, als eigenständigen Menschen begreift, sondern als Teil von sich selbst“, sagt Selina Seemann. „Als sie den Schritt wagt, sich zu trennen, akzeptiert er das nicht. Sein extremes Verhalten als Reaktion darauf ist einfach nur die logische Konsequenz aus dem Verhalten, das vorher schon da war.“ Selina Seemann erschafft also nicht nur eine nachvollziehbare Betroffene von sexualisierter Gewalt mit ihrer Ich-Erzählerin Milena, sondern auch ein immer deutlicher werdendes Täterprofil der Psyche eines Groomers.

Der wachsende Berg an Einzelfällen

Außerdem spricht sie mit ihrer Geschichte subtil den wachsenden Berg sogenannter Einzelfälle in kirchlichen Kontexten an: „Wenn solche Fälle gemeldet werden, wird es erst mal Kirchen-intern geklärt. Und da denke ich mir, wie soll man das machen? Also die Leute, die beschuldigt werden, sind die, die es überprüfen und sanktionieren sollen? Und dann wird viel unter den Teppich gekehrt, um ein Bild nach außen zu wahren. Genau so kann sich das immer weiter einfach fortsetzen.“

„Die Stärkste unter ihnen“ zu lesen ist hart. Manche fragen sich vielleicht auch nach dem Lesen, warum man sowas nicht einfach anzeigt. Oder warum es der Erzählerin so schwer fällt, den Missbrauch zu erkennen, der ihr passiert. Es gibt hunderte Gründe, weshalb Betroffene sich gegen eine Anzeige entscheiden. Wahrscheinlich tausende, warum sich viele erst Jahre nach dem Erlebnis eingestehen können, wie traumatisierend es war.

Scham und kognitive Dissonanz weichen dann aber zum Glück irgendwann der Resilienz der Hauptfigur: „Ich wollte etwas sehr Drastisches, wirklich heftige Ereignisse darstellen“, sagt Selina Seemann über ihr erstes Buch. „Aber ich wollte nicht diese klassische Erzählung haben: Jemand erlebt sexualisierte Gewalt, sitzt stundenlang in der Dusche, wird nie wieder des Lebens froh, ist für immer Opfer und in dieser Opferrolle. Ich wollte dem eine Figur entgegenstellen, die davon nicht gebrochen wird, sondern die es schafft, da durchzukommen.“

Hoffnung und Recht auf ein Gutes Leben danach

Dem Narrativ vom hilflosen Opfer stellt Selina Seemann eine resiliente Figur entgegen, die nicht nur viel nahbarer, sondern auch super nachvollziehbar ist. Das Wichtigste bleibt, vielleicht auch um die eigene Psyche sowohl beim Schreiben währenddessen, als auch beim Lesen des fertigen Werks, dass das Buch hoffnungsvolle Perspektiven gibt. Darauf, dass ein gutes Leben nach traumatischen Erlebnissen möglich ist und, dass man auch nach einer Missbrauchsbeziehung unbedingt ein Recht darauf hat.

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