FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Ubahn Wien

Helmer Manfred / Wiener Linien

mit akzent

Die Metro-Predigt

Todor hat in der U6 einen Ubahn-Prediger getroffen.

Von Todor Ovtcharov

Ich liebe die U-Bahn Linie 6 zur Rushhour im Sommer. Die U6 hat keine Klimaanlage. Das Wetter ist heute heiß, und alle kleben aneinander, sowohl die von der bürgerlichen Seite des Gürtels als auch die aus der Arbeiterperipherie. Manche nennen diese U-Bahnlinie “Orient Express”, was aber besser passen würde ist “Arche Noah”.

Mit Akzent

Die unaussprechliche Welt des Todor Ovtcharov und sein satirischer Blick auf das Zeitgeschehen - jeden Mittwoch in FM4 Connected und als Podcast.

„Die Leiden des jungen Todor“ - Das Buch mit den gesammelten Kolumnen gibt es im FM4 Shop.

Neben mir sitzt ein polierter Herr in einem maßgeschneiderten Anzug, der den Guardian auf seinem Iphone liest. Warum er wohl in einen Artikel über übergewichtige Kinder vertieft ist? Neben ihm ist ein Roma Bauarbeiter mit weißer Farbe auf der Hose. Er passt sorgfältig auf, niemanden im überfüllten Waggon schmutzig zu machen. Ich habe selten jemanden gesehen, der öfter “Entschuldigung” gesagt hat. Er scheint sich entschuldigen zu wollen, dass er überhaupt da ist. Daneben sitzt eine schwangere Frau, die Kürbiskerne isst. Sie öffnet sie geschickt mit dem Mund und steckt den Müll wieder in die Handtasche. Neben ihr eine Frau im Rollstuhl und eine andere, die sie pflegt. Sie sehen absolut gleich aus: die gleichen Nasen, die gleichen Blicke, die gleichen abwesenden Gesichter. Und weiter drüben eine junge Frau, bedeckt mit Piercings und Tattoos. Sie studiert sorgfältig ihr eigenes Gesicht mit ihrer Handykamera. Wahrscheinlich sucht sie einen freien Platz für das nächste Piercing.

Dann steigt ein älterer Herr über 80 ein, mit dicker Brille, Leinenhemd und Stohhut. Die U-Bahn-Tür ist gerade zugegangen, als er zu donnern beginnt: „Wir müssen Jesus Christus in unsere Herzen lassen. Wir müssen aufhören zu lügen, zu betrügen und Sex vor der Ehe zu haben!“

Bis zur nächsten Station macht er uns dann für alles verantwortlich, von Adam und Eva bis heute. Einige tun so, als ob sie ihn nicht hörten und schauen weiter auf ihre Handys. Andere lächeln. Alle hoffen, dass er bald aussteigt. Doch er bleibt.

Ubahn Wien

Johannes Zinner / Wiener Linien

Wir bleiben auch, und das gibt ihm neue Kräfte: “14-jährige Kinder werden durch vorehelichen Sex mit AIDS infiziert. Lasst Jesus Christus in eure Seelen, folgt ihm!” In diesem Moment platzt dem Mann mit dem maßgeschneiderten Anzug der Kragen. “Halt gefälligst dein Maul! Ich hab den ganzen Tag beruflich mit Idioten zu tun, ich will nicht auch noch in der U-Bahn von einem Trottel missioniert werden!” Der Prediger tut so, als ob er nichts gehört hätte: “Lasst die Armen und die Schwachen in eure Herzen!”

Was folgt, ist ein saftiger slawischer Fluch von dem Bauarbeiter mit der schmutzigen Hose. Es ist verwunderlich, dass der Mann, der sich gerade noch für alles entschuldigt hat, so fluchen kann. Doch der Prediger reagiert mit dem Stoizismus der ersten Christen, die den Löwen vorgeworfen wurden. Er will weiter machen, doch die Frau mit den Piercings unterbricht ihn diplomatisch: “Wir haben Ihre Botschaft verstanden! Jesus Christus und so weiter. Jetzt können Sie aufhören.”

Der Prediger predigt unbeirrt weiter über den gesellschaftlichen Verfall im 21. Jahrhundert. An der nächsten Station steige ich aus, die meisten Fahrgäste ebenso. Sie warten auf den nächsten Zug. Der Prediger bleibt allein. Ich glaube, dass er weiterpredigen wird, in der Hoffnung, dass die leeren Sitze, wo so viele Ärsche gesessen sind, ihm zuhören.

In der Station spielt ein bärtiger alter Hippie „Sound of Silence“ auf seiner Gitarre.

Aktuell: