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Portraitfoto Marianne Faithfull

© Yann Orhan

Musik

Wenn die Liebe die Einsamkeit heilt

Die 72-jährige, englische Sängerin und Songschreiberin Marianne Faithfull hat mit „Negative Capability“ eines der wohl berührendsten Alben des Jahres geschrieben. Geholfen haben ihr dabei u.a. Nick Cave, Mark Lanegan und Warren Ellis.

von Andreas Gstettner-Brugger

Vor 54 Jahren hat ihre zarte und unschuldig wirkende Stimme alle verzaubert. Ihre ineinander verschränkten Hände und die leicht überkreutzten Beine in dem Video zu „As Tears Go By“ vermitteln eine Schüchternheit und Unsicherheit.

Geschrieben wurde der Song von Mick Jagger und Keith Richards von der Rolling Stones. Statt ihren ursprünglichen Plan zu verfolgen, an die Universität zu gehen, um zu studieren, ist die damalige Teenagerin Marianne Faithfull „in ein falsches Leben hineingefallen“, wie sie selbst in einem Interview meint. Die darauffolgende, karrieretechnisch wilde und persönliche Achterbahnfahrt mit schwindelerregenden Höhen und schmerzhaften Tiefen gipfelt nun in dem Album „Negative Capability“, das sofort unter die Haut geht und einen tief berührt.

Die Sixties, der Terror und die Einsamkeit

Marianne Faithfull spricht nicht gerne über die Zeit mit den Rolling Stones. Zu abgekaut ist die Geschichte der blutjungen Britin an der Seite von Mick Jagger, zu schmerzhaft sind ihr oft die Erinnerungen an ihren kometenhaften Aufstieg und den tiefen Fall in die Drogensucht. Das hat sie schließlich schon 1979 in ihrem Album „Broken English“ versucht zu verarbeiten, mit dem sie sich auch als eigenständige Künstlerin eine neue musikalische Identität schuf. Und doch finden sich in ihrem neuen Album „Negative Capability“ Spuren und Referenzen zu ihrer bewegten Vergangenheit.

Marianne Faithfull ist ein Kind der Nachkriegszeit. Ihre österreichische Mutter hat im Wiederstand den britischen Armeesoffizier und späteren Vater von Marianne Faithfull kennengelernt. Und so referiert „They Come At Night“, ein wütend stampfender, düsterer Up-Tempo-Song, nicht nur auf die schrecklichen Anschläge von Paris 2015, sondern zieht auch Parallelen zum zweiten Weltkrieg, in dem die Grenzen der involvierten Nationen noch klar auszumachen waren. Heute verwischen diese klaren Linien und es gäbe keine große Weltmacht mehr, die es schaffen würden, diesem Terror ein Ende zu setzen, so Marianne Faithfull in ihrem Song. Die Dringlichkeit und die persönliche Betroffenheit ist bei diesem großartigen Stück sofort herauszuhören, das sie mit Sänger und Produzent Mark Lanegan zusammen geschrieben hat.

Albumcover "Negative Capability"

BMG/Marianne Faithfull

Das 21. Studioalbum von Marianne Faithfull „Negative Capability“ ist bei BMG erschienen.

Ein anderes, großes Thema der Platte ist Einsamkeit. Die mittlerweile in Paris lebende Sängerin Marianne Faithfull hat in den letzten Jahren viele ihrer engen Freundinnen und Freunde verloren. Das Klavier-basierte Stück „Don’t Go“ ist dem Musikerfreund und Gitarristen Martin Stone gewidmet. Diese zerbrechliche Ballade, die gegen Ende hin auf einen dramatischen Klimax zusteuert, hat sie mit dem Briten Ed Harcourt komponiert. So wie auch den gefühlvollen Abschiedssong „Born To Live“, den sie ihrer engen Lebensbegleiterin Anita Pallenberg gewidmet hat, von der die meisten Medien immer nur als Rolling Stones Muse berichtet haben. Auch dieser musikalische Nachruf ist sehr reduziert, stripped to the bone. Marianne Faithfulls tiefe Stimme schwebt über das immer wiederkehrende Klavierthema, umarmt uns tröstend und lässt den Schmerz eines Abschieds ein bisschen besser aushalten.

Das poetische „The Gypsy Faerie Queen“, komponiert und gesungen mit dem großartigen Nick Cave trägt auch eine bittersüße Sehnsucht in sich, die zwischen der Schwere der Einsamkeit und dem Glücksgefühl der gemeinsamen Plattenproduktion hin und her zu pendeln scheint. Denn wie Marianne Faithfull in einem Interview mit Nick Cave meint: „We need each other, we really do!“

Der Mond und die Liebe

Wenn Marianne Faithfull einen Satz singt, schwingt weit mehr mit als nur die Wörter. Ihre ganze Erfahrung und die hinter den Texten mitschwingenden Geschichten transportiert die Ausnahmekünstlerin mit ihrer vom Leben gezeichneten Stimme. Dabei wirkt Marianne Faithfull nie verbittert oder verzweifelt. Zu dem gefühlten Schmerz und der Melancholie mischt sich auch eine lebensbejahende Weisheit und die Fähigkeit, das Leben mit all seine Facetten anzunehmen. Dazu passt auch der Titel „Negative Capability“, eine Phrase, die der Poet John Keats geprägt hat. Sie beschreibt die Fähigkeit, anzuerkennen, dass es komplexe Umstände gibt, die wir nicht erklären können und die daraus folgende Unsicherheit und auch Verwirrung annehmen zu können.

Gerade Marianne Faithfull ist ein Mensch, der sich sehr viele Sorgen macht, wie sie im Gespräch mit Nick Cave meint. Doch mit ihrem guten Team, dem Bad Seeds Mitglied Warren Ellis und dem PJ Harvey Produzenten Rob Ellis hat sich es geschafft, ihr ehrlichstes Album zu schreiben.

Portraitfoto Marianne Faithfull

© Yann Orhan

Und genau diese Ehrlichkeit und der ungeschminkte Einblick in Faithfulls Seele macht „Negative Capability“ zu so einem außergewöhnlichen Werk, das einen tief bewegt. Und bei all der Schwere der Themen liegt auch eine hoffnungsvolle Schönheit in ihren Songs. Schließlich geht es letztendlich immer um die Liebe. Wie es Marianne Faithfull in dem zu Tränen rührenden Abschlussstück „No Moon In Paris“ so schön auf den Punkt bringt:

It always made me gasp, gasp with love to see,
But that was when I still loved you and you loved me.
There’s no moon, no moon in Paris tonight
and it’s lonely and that’s all I’ve got.

Everything passes, everything changes,
There’s no way to stay the same.
As below, then so above,
The only thing that stays the same is love.

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