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Demonstration am Gürtel

ORF.at/Christina Vogler

„Wir sind viele!“

Die „Großdemonstration gegen Schwarz-Blau“ hat am Samstag gegen das Programm der Regierung protestiert. Trotz Schneegestöbers und vorweihnachtlichem Einkaufssamstag waren Tausende Menschen dabei.

Von Lukas Tagwerker

Am Ende der Fußgängerzone Mariahilferstraße steht die Christbaumverkäuferin dick eingepackt zwischen ihren Waldviertler Tannen und wartet auf Kundschaft. Es hat Minus 1 Grad. In dicken Flocken fällt Schnee. Immer mehr Menschen kommen am Christian-Broda-Platz zusammen. Sie bilden Trauben rund um den Christbaumwald. Bald sind es mehr DemonstrantInnen als Tannen.

„Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen!“, schreit die Innsbrucker Jus-Studentin und VSSTÖ- Vorsitzende Katharina Embacher von der Bühne.

Die Christbaumverkäuferin will dazu nichts sagen. Sie ist frustriert darüber, dass sie in den nächsten Stunden weniger Bäume verkaufen wird, und vertreibt sich die Zeit damit, einen kleinen Schneemann zu bauen.

„Wir lassen uns nicht aufgrund von wirtschaftlicher Verwertbarkeit bewerten!“, schallt es über den Platz.

Die Baumverkäuferin setzt ihrem Schneegeschöpf zwei grüne Mistelbeeren als Augen in den Kopf. Mit einer Tannennadel als Mund glotzt der Schneemann indifferent in die Menschenmasse. Obwohl der Protest für die Tannenverkäuferin ein Ärgernis ist, will sie klarstellen: “Gegen Rassismus bin ich selber.“

Zwei Tage nach dem parlamentarischen Beschluss zur Abschaffung der selbstverwalteten Gebietskrankenkassen und drei Tage vor dem ersten Jahrestag der Angelobung von Kurz und Strache folgen Zigtausende Menschen (laut Polizei 17.000, laut Veranstaltern 50.000) aus allen Bundesländern dem Aufruf der Plattform heisserherbst, einem linken Bündnis aus feministischen, gewerkschaftlichen, antirassistischen und antifaschistischen Initiativen.

Vor dem Eingang eines Bettengeschäfts höre ich zwei private Securities im Gespräch mit einem Polizisten über den 12-Stunden-Tag schimpfen.

Wenige Meter entfernt hält jemand mitten in der Menge eine Armbanduhr in die Luft. Eine codierte Botschaft in Anspielung an den Wahlspruch von Sebastian Kurz? Nein, die Uhr hat offenbar jemand verloren. Der Musiklehrer Andreas hat sie am Boden gefunden. „Wenn der- oder diejenige sich umdreht, um ihre Uhr zu suchen, hoffe ich, dass sie das sieht und dann kriegt sie’s wieder.“

Auf die Frage, was ihn bei diesem Wetter hierhergeführt hat, sprudeln Kraftausdrücke aus dem Musiklehrer. Die Häufigkeit von öffentlich geäußerter Nazisprache und die „Megakatastrophe“ der Sozialversicherungsreform machten ihn besonders wütend.

„Es wird so ausgehen, dass früher oder später, wenn die ganzen sozialen Furchtbarkeiten zum Wirken anfangen, Autos brennen werden“, befürchtet Andreas. Lehrer-Kollegin Viktoria steht daneben, erzählt davon, dass die von der Regierung eingeführten separaten Deutschklassen nicht funktionieren würden, und ist genauso pessimistisch: „Wir stehen kurz davor, dass es knallt.“

Für einen Skandal halten beide, dass die geplante Demonstrationsroute über die Mariahilferstraße zum Heldenplatz von der Polizei nicht genehmigt wurde. Offiziell wegen „Sicherheitsproblemen“ muss nun über den Gürtel und die Burggasse marschiert werden.

Der Schneefall nimmt ein wenig ab, als die Demo sich in Bewegung setzt. Boku-Studentin Hanna versucht den Klimapolitik-Block zu finden, was nicht so einfach ist. Schließlich reiht sie sich mit einer Freundin zwischen austro-türkischen ArbeiterInnen ein. Die angehende Umwelt- und Bioressourcenmanagerin sagt: „Faschistische Aussagen dürfen nicht Normalität werden.“

In erster Linie sei sie hier, um etwas gegen ihr eigenes Ohnmachtsgefühl zu tun. Das sei ein erster Schritt: zu erkennen, dass man nicht allein sei.

In einer Alt-Wiener Gastwirtschaft in der Burggasse wundert sich der Wirt über die vorbeiwandernden Menschenmassen. „Wogegen demonstrieren die? Gegen die Regierung? Dabei hat es schon lange keine Regierung gegeben mit so viel Zustimmung wie die jetzt.“ Ein älterer Kellner gibt sich verständnislos: “Warum immer durch die Burggasse? Das verstehe ich nicht.“

Pflegehelfer Florian ist aus Linz angereist und in der SLP organisiert. Im Vergleich zur ersten schwarz-blauen Regierung vor 18 Jahren habe es im ersten Jahr der Regierung Kurz viel Widerstand gegeben: Warnstreiks im Sozialbereich, bei den Metallern und bei den EisenbahnerInnen.

Die Großdemonstration sei eine Möglichkeit, um sich zu vernetzen und um ein Programm gegen die „Regierung der Reichen“ zu entwickeln. Beschäftigte im Sozialbereich forderten 6% Lohnerhöhung und gründen Aktionskomitees. Dagegen bereitet es dem jungen Pflegehelfer Sorgen, dass die Gewerkschaften weder beim Kampf gegen den 12-Stunden-Tag noch bei der Zerschlagung der selbstverwalteten Gebietskrankenkassen eine effektive Strategie gehabt hätten und sich stattdessen mit Rhetorik und Symbolpolitik begnügten. Florians Vorschlag: „Basisorganisierung auf die Füße stellen.“

Während die Spitze der Demonstration am Heldenplatz eintrifft, präsentiert die sechsköpfige Band Free Willy eine musikalisch untermalte Auflistung rechtskräftig verurteilter FPÖ-Politiker, deren Delikte reichen von Körperverletzung und illegalem Waffenhandel bis zu NS-Wiederbetätigung und schwerem Betrug.

Unter den AbschlussrednerInnen sind jeweils zwei VertreterInnen von NGOs, der Gewerkschaften und aus politischen Parteien, wobei die neue Wiener Grünen-Chefin Birgit Hebein interessanterweise nicht als Grün-Politikerin benannt wird, sondern im Namen des KZ-Verbands-Wien spricht.

Die Regierung Kurz-Strache rüttle an den Säulen der Demokratie, so Hebein. Kritische Gutachten zu Gesetzen würden entfernt, während rechtsextreme Zeitungen, die die Demokratie in Frage stellten, mit Steuergeldern finanziert würden. Gleichzeitig funktioniere die schwarz-blaue Vermarktungsmaschinerie bei der Bevölkerung. „Wir sind viele! Vergesst das nie!“, ruft Birgit Hebein den Menschen am Heldenplatz zu.

In der Tonart am aggressivsten ist die Rede der SPÖ-Kandidatin zum EU-Parlament Julia Herr. Das Geld, das die Regierung bei Mindestsicherung, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe wegnehme, würde umgehend zu Konzernprofiten gemacht. Denn Großkonzerne sollen bald nur mehr die Hälfte an Steuern für ihre Gewinne zahlen. Weil es Steuergeschenke für Superreiche gebe, während von Armut betroffene Kinder in nicht geheizten Wohnungen sitzen würden, müsse eine andere Politik erkämpft werden.

Nachdem ein Schülervertreter auf die Einführung von Geld- und Haftstrafen für unentschuldigtes Fernbleiben vom Unterricht hingewiesen hat, berichtet ein Crew-Mitglied des Rettungsschiffes Juventa von der Kriminalisierung der LebensretterInnen und mahnt, sich davon nicht einschüchtern zu lassen und weiterhin menschlich zu bleiben.

Nach einem Weckruf angesichts der „Entdemokratisierung“ und „Enteignung“ der Krankenkassen, zitiert der Gewerkschafter Axel Magnus schließlich ein Gedicht von Percy Shelley, das Jeremy Corbyn zuletzt im britischen Wahlkampf öffentlich rezitiert hat:

Rise, like lions after slumber
In unvanquishable number!
Shake your chains to earth like dew
Which in sleep had fallen on you:
Ye are many — they are few!

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