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Deler Hamid

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Massenquartiere in Zeiten der Pandemie

Die Pandemie zeigt, wo die Gesellschaft am verwundbarsten ist. Abstands-Regeln können in Flüchtlings-Massenquartieren nicht eingehalten werden. Welche Unterbringung ist stattdessen möglich? Und wie sieht Solidarität mit geflüchteten Menschen jetzt aus?

Von Lukas Tagwerker

Deler Hamid hat sich in der Zeit der Ausgangsbeschränkungen seinen Bart wachsen lassen. Als ich ihn am Bahnhof Traiskirchen treffe, trägt er den Bart seitlich gestutzt. In seinem ruhigen Blick wechseln sich Erleichterung und tiefe Verunsicherung ab. „Als sie uns plötzlich sagten, wir dürften nicht mehr rausgehen, sagte ich: Was ist mit euch los? Das hier ist kein Gefängnis. Wir sind keine Verbrecher!“

Von 24. März, als erste Covid-19 Fälle in Traiskirchen bestätigt waren, bis 30. April galt für die Bewohner*innen des Erstaufnahmezentrums Traiskirchen der Erlass der Bezirkshauptmannschaft Baden: Sie durften das Gelände nicht verlassen. Zugleich gingen Mitarbeiter*innen der Betreiberfirma ORS täglich ein und aus.

Rechtswidrige Ausgangssperre?

Für Rechtsanwalt Clemens Lahner ist der Erlass, der zwischen Asylwerber*innen und Mitarbeiter*innen unterscheidet statt zwischen verschiedenen Kontaktgruppen, unsachlich und damit mutmaßlich rechtswidrig. Badens Bezirkshauptfrau Verena Sonnleitner beteuert, dass „medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen“ die Grundlage der wochenlangen Ausgangssperre waren.

Eindruck aus Traiskirchen

Deler Hamid

Deler Hamid: „Ich sagte den Mitarbeitern im Lager: eure Angst vor uns wegen Covid-19 ist unbegründet. Wir sollten viel eher Angst vor euch haben, denn die ganze Zeit geht ihr raus und wieder rein. Vielleicht stecken wir uns von euch an. Man behandelt uns hier wie im Kindergarten. Die ganze Zeit über waren fünf Polizeiwägen am Gelände. Als ich einmal mit einem von den Polizisten sprechen wollte, sind sieben Polizisten gekommen und haben mich angeschrien.“

Andere Beamte hätten sich aber auch schon bei ihm entschuldigt, sagt Deler Hamid.

Als im Lager in Schwechat gegen die Zusammenlegung mit Covid19-Infizierten protestiert wird, versuchen Polizeikräfte die Protestierenden zuerst einzuschüchtern. Hamid, der selbst 15 Jahre lang im Irak als Polizist gearbeitet hat, sagt: „Ich habe der Polizei gesagt, dass ich keine Angst habe. Ich bin bereits in einem freien Land. Ich bin in Europa. Ihr könnt mich nicht mit kranken Leuten zusammenschubsen. Im einen Moment wollt ihr uns schützen und im nächsten Moment bringt ihr kranke Leute her. Wie soll ich mich da sicher fühlen? Ich habe ihnen gesagt: Wir sind keine Ratten und das hier ist kein Labor.“

Sieben Stunden später wird Hamid in einer Gruppe von 120 Personen nach Traiskirchen gebracht, wo doppelt so viele Personen pro Zimmer zusammenwohnen wie in Schwechat.

Eindruck aus Traiskirchen

Deler Hamid

Mangelnder Infektionsschutz in Massenquartieren

Große Ansteckungen sind in Massenquartieren für Flüchtlinge, wo es Mehrbettzimmer gibt und sich lange Schlangen vor Sanitärräumen und Essensaugaben bilden, oft nur eine Frage der Zeit. Eine solchen Fall von Covid-Ansteckungen gab es im Flüchtlingslager am Rande der deutschen Kleinstadt Ellwangen. Auch hier haben Organisationen wie der Flüchtlingsrat empfohlen, die Personen rechtzeitig in kleinere Quartiere umzusiedeln.

In Freiburg, Köln oder Potsdam sei dies auch geschehen. Kleinere Gruppen sind in leerstehende Jugendherbergen und Gaststätten gebracht worden. In Ellwangen hingegen wurden über 400 der 580 Asylwerber mit Covid-19 infiziert.

Seán McGinley, Leiter des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg sagt, die lokalen Behörden würden nicht nur nach dem Prinzip „Deckel drauf und halt die Fresse!“ agieren, sondern das politische Ziel, am Lagersystem und an Abschiebungen festzuhalten, sei ihnen auch wichtiger als das Ziel die Pandemie tatsächlich einzudämmen. Auch in deutschen Lagern hätten viele Bewohner den Eindruck, „als würde man mit ihnen ein bizarres Menschenexperiment machen. Nach dem Motto: wir sperren jetzt ein paar hundert Leute zusammen, infizieren die alle mit dem Corona-Virus und gucken, was dann so passiert.“

Eindruck aus Traiskirchen

Deler Hamid

Wenn Personen ihre Testergebnisse nicht mitgeteilt werden und sie im Ungewissen gelassen werden, während man sie – oftmals nachts – in andere Räume oder Gebäude zwangsumsiedelt, dann werden sie nicht wie mündige erwachsene Menschen behandelt, die sie aber sind. Dass Organisationen derzeit vehement darauf hinweisen müssen, dass auch Geflüchtete Menschenrechte haben, findet Seán McGinley erschreckend.

Im Fall des 5-wöchigen Erlasses in Traiskirchen hat Rechtsanwalt Clemens Lahner für zwei Mandanten, darunter Deler Hamid, eine Maßnahmenbeschwerde beim zuständigen Verwaltungsgericht angekündigt.

FM4 Auf Laut: Isoliert in Massen

Die Pandemie zeigt, wo die Gesellschaft am verwundbarsten ist. Abstands-Regeln können in Flüchtlings-Massenquartieren nicht eingehalten werden. Wie in Traiskirchen, wo sich bis zu 50 Personen Räume teilen und vor der Essensausgabe in langen Schlangen anstehen müssen.

Nach Bekanntwerden erster Covid-19 Fälle im Zentrum Traiskirchen sind die über 600 Bewohner*innen für fünf Wochen eingeschlossen und von der Außenwelt abgeriegelt gewesen.

Warum dieser verschärfte Arrest, wenn sonst zwei Wochen Quarantäne ausreichen? Nach dem Tod eines Asylwerbers an Covid-19 stellt sich die Frage: Welche Unterbringung ist statt der gesundheitsgefährdenden Massenquartiere möglich? Und wie sieht Solidarität mit Geflüchteten Menschen jetzt aus?

Ali Cem Deniz diskutiert mit Karim Rihan, der als Zivildiener im Quarantänelager Messezentrum Wien war, mit Doro Blancke von Fairness Asyl und mit Dir!

Die Sendung kannst du noch 7 Tage im FM4 Player anhören!

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